Mut zur Innovation

Mit neuen Lehrformen können relevante Fähigkeiten Studierenden besser vermittelt werden, ist Ernst Hafen überzeugt. Er half, den neuen Medizinstudiengang an der ETH aufzubauen.

Ernst Hafen

Freitag, 12. Januar 2018. Zwei Studenten, die an der ETH Zürich im ersten Semester Medizin studieren, stehen vor 21 Oberärzten und leitenden Ärzten, die an der Universität Zürich ein CAS-Weiterbildungsstudium absolvieren. Die Studenten präsentieren den gestandenen Ärzten eine Zusammenfassung des Buchs «The Patient Will See You Now». Der US-Kardiologe Eric Topol beschäftigt sich darin mit Zukunftsszenarien einer digitalisierten und «demokratisierten» Medizin, in der Patienten dank Smartphones mit erweiterten Diagnosefunktionen eine viel aktivere Rolle einnehmen als heute.

Die Studenten haben sich bereits im September während der ersten Woche ihres Studiums an der ETH mit diesem Buch befasst. Inszeniert als interaktives Frage-Antwort-Spiel schälen sie nun souverän dessen wichtigste Botschaften heraus. Studierende unterrichten Experten. Dies ist eine Art des Flipped-Classroom-Konzepts («umgedrehter Unterricht») mit dem wir an der ETH in der Medizinausbildung neue Wege gehen.

Flipped classroom
Zwei Medizinstudierende vor Ärzten. (Bild: ETH Zürich / Ernst Hafen)

Chance für Neukonzeption

Ein neuer Studiengang bietet immer die Chance, ihn grundlegend neu zu konzipieren. In einem berufsbefähigenden Studiengang wie der Medizin, dessen enges Anforderungsprofil noch weitgehend aus dem letzten Jahrhundert stammt, ist das eine besondere Herausforderung, besonders wenn man bedenkt, wie rasch sich die Medizin durch Genomik, Smartphone-Sensoren, Big Data und Künstliche Intelligenz verändert.

Bei der Konzeption der Lehrveranstaltungen zu den biologischen Grundlagen im Medizinstudium sind wir nach dem «Reverse Design» vorgegangen. Das heisst, wir haben zuerst die Fähigkeiten bestimmt, die Studierende im Bachelorstudiengang Medizin erwerben sollen. Anschliessend machten wir uns Gedanken, wie wir diese Fähigkeiten überprüfen können. Erst zum Schluss bestimmten wir, welche Inhalte wir den Studierenden vermitteln müssen. Bei der Konzeption konnten wir auf die Expertise und Ressourcen des Centers for Active Learning (CAL) des Departments Biologie zurückgreifen.

«Meine Aufgabe ist es, das Gelernte in einen Kontext zu stellen.»Ernst Hafen

Dabei haben wir uns entschieden, die Lerneinheit «Molekulare Genetik und Zellbiologie» für 330 Studierende der Medizin und der Gesundheitswissenschaften als Flipped Classroom durchzuführen. In zwei der fünf Wochenstunden erarbeiten sich die Studierenden mit eigens für diese Vorlesung konzipierten Lernmodulen die Grundlagen im Selbststudium. In den Vorlesungen werden dann die Konzepte an Beispielen erklärt und erweitert. Jede Woche finden Gruppenarbeiten statt, zum Beispiel ein Experteninterview oder eine Fallstudie zu den molekularen Ursachen einer Krankheit. Drei Dozenten, zwei Mitarbeiter des CAL und 15 studentische Assistierende betreuen die Studierenden während des Semesters.

Grosse Zustimmung

Einmal wurde ich in der Vorlesung gefragt, wofür man denn in die Vorlesung kommen müsse, wenn alle Unterlagen schon im Voraus bearbeitet werden. Diese Frage machte mir meine Rolle als Dozent in der heutigen Hochschullandschaft noch einmal deutlich: Meine Aufgabe ist es, das Gelernte in einen Kontext zu stellen und mit den Studierenden die Konzepte zu diskutieren. Nicht nur ich, sondern alle Dozierenden, das Team des CAL und die Hilfsassistierenden haben aus dem Austausch mit den Studierenden viel gelernt.

Erfreulicherweise sehen das auch die Studierenden so. Die Evaluation ergab, dass die grosse Mehrheit (82 Prozent) der Studierenden die gelehrten Inhalte als relevant bis sehr relevant für ihr Studium empfindet. Auch der Lehransatz Flipped Classroom fand grosse Zustimmung: 75 Prozent der Studierenden wünschen sich ähnliche Modelle für andere Lehrveranstaltungen.

Mehr Online-Lehrgänge

Die curriculären Vorgaben im Medizinstudium sind eng. Doch die Verantwortlichen für den Studiengang im Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie haben einen grossartigen Job gemacht, die Beteiligten für eine grundlegend neue Konzeption dieses Studiengangs zu gewinnen. Ein moderner Studiengang braucht neue Lernformen und anspruchsvolle Lernmodule, aber auch Mut zur Innovation in den klinischen Disziplinen.

Man könnte sogar noch weiter gehen. Derzeit vermitteln Dozierende der Universität Zürich die medizinischen Grundlagen wie zum Beispiel Anatomie an die ETH-Studierenden. Meines Erachtens könnte man hier vermehrt auf interaktive Online-Lehrgänge setzen. Solche gibt es1, und sie könnten, gepaart mit Übungen und Diskussionen in Gruppen, Frontalvorlesungen ersetzen.

An der ETH haben wir hervorragende und motivierte Studierende. Unsere Aufgabe ist es nun, diese Motivation während des Studiums aufrechtzuerhalten. Ich bin überzeugt, dass wir unsere Studierenden besser auf die zukünftigen Herausforderungen vorbereiten können, wenn wir im Studium Freiräume schaffen für Gruppenarbeiten, Buchclubs oder Projektarbeiten wie die eingangs erwähnte Lektüre von Eric Topols Buch.

ETH-Professor Ernst Hafen ist Studiendirektor des Departements Biologie und Verantwortlicher für die biologischen Grundlagen im neuen ETH-Medizinstudium.

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