Platz für Neues schaffen
Wie geht die Lehre an der ETH Zürich mit der Informationsexplosion in Forschung und Technik um? Im Unterricht geht es neben dem Aufbau von Fachwissen immer mehr um die Vermittlung von überfachlichen Kompetenzen wie kritischem Denken sowie der Fähigkeit, relevante Informationen herauszufiltern, zu verstehen und anzuwenden.
Der enorme Wissenszuwachs durch Forschung und Technik in den letzten 30 Jahren führt dazu, dass auch ausgewiesene Expertinnen und Experten zusehends Mühe haben, mit der Entwicklung des Kenntnisstands Schritt zu halten. Vor diesem Hintergrund ergeben das hartnäckige Aneinanderreihen von Fakten und die systematische Vermittlung eines enzyklopädischen Wissens immer weniger Sinn.
«Klar tut weglassen weh, aber es kann im Unterricht an der ETH nicht mehr darum gehen, alles abzudecken», sagt Andreas Vaterlaus, Professor für Physik und Prorektor für Curriculumsentwicklung. «Etwas nur oberflächlich zu behandeln, ohne dass die Studierenden Gelegenheit haben, dieses Wissen auch anzuwenden, bringt nicht viel.» Vaterlaus überblickt, wie sich die Lehre an der Hochschule stetig wandelt, damit sie an den aktuellen Wissensstand angepasst bleibt.
Wichtige Signale liefere jeweils die Unterrichtsbeurteilung, sagt er. Wenn sich viele Studierende beklagen, dass der Stoff zu dicht sei und ihnen die Zeit fehle, die Unterrichtsinhalte zu verarbeiten, deute das oft darauf hin, dass es Zeit sei für eine Entrümpelung. Ziel gemäss der Lehrpolicy der ETH ist es, den Studierenden vielfältige Möglichkeiten und Freiräume zu bieten, Höchstleistungen zu zeigen – auch ausserhalb von Leistungsnachweisen und Curricula. «Auf der Stufe der einzelnen Lehrveranstaltungen geschieht viel, das wir in der Zentrale nicht mitbekommen», sagt Vaterlaus. Werden jedoch grössere Änderungen geplant oder gar ganze Studiengänge neu gestaltet, beteiligen sich die Abteilung Lehrentwicklung und -technologie, das Team der Rechtsetzung Lehre und der Prorektor Curriculumsentwicklung von Anfang an am Prozess.
«Nur durch die Weiterentwicklung von Studiengängen bekommen die Studierenden auch weiterhin das Rüstzeug, um die Zukunft mitzugestalten.»Andreas Vaterlaus, Prorektor für Curriculumsentwicklung
Mit der Studiengangsinitiative steht den Departementen ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie sich einen finanziellen Spielraum eröffnen und Zeit gewinnen können für die Entwicklung von neuen Inhalten und Lehrformen. Wenn ein ganzer Studiengang neu strukturiert und umgebaut wird, so dass «kein Stein auf dem andern bleibt», entsteht Platz für Neues. Das lässt sich beispielsweise bei den beiden aktuellen Studiengangsinitiativen der Materialwissenschaft und der Biologie beobachten.
Stärkere Gewichtung der Engineering-Anteile
Die Materialwissenschaften haben sich seit der Jahrtausendwende stark entwickelt. Die frühere Trennung der Materialklassen – etwa Metall, Keramik oder Polymere – hat an Bedeutung verloren, dafür stehen nun übergreifende Eigenschaften im Vordergrund. So gibt es etwa einen Lehrstuhl für komplexe oder einen für multifunktionale Materialien. «Wir möchten die neue Auslegung des Fachgebiets schon im Bachelor-Studium besser abbilden», sagt Sara Morgenthaler, Studienkoordinatorin am Departement Materialwissenschaft.
Im Austausch mit Dozierenden und Studierenden, aber auch mit Ehemaligen, anderen Hochschulen und Unternehmen, ist skizziert worden, was Absolventinnen und Absolventen nach durchlaufener Ausbildung können müssen. So ist ein Ziel der Initiative «Materials Redesigned», dass das Curriculum die Studierenden auf die beruflichen Herausforderungen der Zukunft vorbereitet. Dies soll durch eine stärkere Gewichtung der Engineering- und Design-Anteile unter Beibehaltung der wissenschaftlichen Stringenz geschehen.
Es helfe, sich bei der Neuausrichtung eines Studiengangs grundlegende Fragen zu stellen und mit einem sogenannten Qualifikationsprofil zuerst die Ziele zu definieren, sagt Vaterlaus. Durch die Zielorientierung würden Dozierende die enge Fokussierung auf das eigene Fachgebiet überwinden können. «Wenn statt der Frage, ob ich jetzt zwei oder drei Stunden für meine Vorlesung kriege, das ganze Studienprogramm im Fokus steht, beginnt meist ein sehr konstruktiver Prozess der Curriculumsentwicklung.»
Das Departement steckt mitten in den Vorbereitungsarbeiten. Schon im Herbst 2020 beginnen die zukünftigen Materialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler im revidierten Studiengang mit einer vollständig neuen Struktur. Der neue Studiengang zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er die Kompetenzen aus unterschiedlichen Lehrveranstaltungen miteinander verknüpft, sondern die Studierenden in Ingenieurprojekten selbstständig Lösungen für Probleme erarbeiten lässt. «Wir möchten, dass die Studierenden vom Produkt aus materialwissenschaftliche Fragestellungen ableiten und bearbeiten», erklärt Morgenthaler. Da dies eng mit der Vermittlung von Charakterisierungs- und Verarbeitungsmethoden verbunden sei, würden im Moment Labore umgestaltet und für die Lehre zugänglich gemacht. So hätten die Studierenden schon früh Zugriff auf Geräte, die auch in der Forschung verwendet werden.
Ausgerichtet an der Entwicklung des Lebens
Im Herbst 2020 fällt auch der Startschuss für den neu gestalteten Bachelor-Studiengang in der Biologie. «Wir wollen uns vom traditionellen Fokus auf vielzellige Organismen wie Pflanzen und Tiere lösen und den Studiengang neu an der Entwicklung des Lebens ausrichten», sagt Julia Vorholt, Professorin für Mikrobiologie und Koordinatorin der Studiengangsinitiative «Biologie nach Grundprinzipien». Die Evolution als roter Faden erlaube es, den Unterrichtsstoff an der Entwicklungsgeschichte der Organismen auszurichten und so zu ordnen, dass die Dozierenden vermehrt allgemeine Gesetzmässigkeiten und Zusammenhänge aufzeigen könnten und weniger isoliertes Faktenwissen vermitteln müssten.
Bisher diente das erste Jahr des Bachelor-Studiengangs weitgehend dazu, das unterschiedliche Schulwissen der Studierenden aufzufrischen und zu standardisieren, sodass im zweiten Jahr zentrale biologische Inhalte wie etwa Stoffwechsel oder Vererbung vertieft angegangen werden konnten. Doch die aktuellen Lehrbücher seien mit einem zu engen Blickwinkel verfasst. «Die Biochemie beschreibt hauptsächlich die biochemischen Vorgänge in einer Leberzelle. Das ist ein sehr kleiner Teil der Lebensprozesse», erklärt Vorholt. Diese Konzentration auf Mehrzeller mache es schwierig, ein Verständnis für evolutionäre Zusammenhänge zu entwickeln.
Mit dem neuen Studiengang versuchen die Biologinnen und Biologen nun nachzuzeichnen, wie sich das Leben von Beginn an – vor etwa vier Milliarden Jahren – entwickelt hat und welche vielfältigen Lösungen dabei entstanden sind, um unter den jeweils vorherrschenden Bedingungen bestehen zu können. Vorholt und ihre Kolleginnen und Kollegen möchten den Unterricht auf den grundlegenden Erkenntnissen der letzten 20 Jahre aufbauen, die ein neues Licht auf biologische Kernfragen werfen. Was ist Leben, und was sind seine Voraussetzungen und Gesetzmässigkeiten? «Wir hoffen, dass wir die Neugierde und den kritischen Geist unserer Studierenden wecken, wenn wir von Anfang an Fragen aufwerfen, die noch offen sind, um so auch die Grenzen unseres Wissens aufzeigen», sagt Julia Vorholt.
«Wir wollen den kritischen Geist unserer Studierenden wecken, wenn wir von Anfang an auch die Grenzen unseres Wissens aufzeigen.»Julia Vorholt, Koordinatorin der Studiengangsinitiative «Biologie nach Grundprinzipien»
Der neue Studiengang soll mehr interdisziplinäre Elemente enthalten und engere Verbindungen als bisher zu Chemie, Physik, Mathematik und Informatik knüpfen. Geplant ist, die Unterrichtsinhalte der Biologie mit denen der anderen Fächer abzustimmen. «Mit diesem Anliegen sind wir überall auf offene Ohren gestossen», sagt Vorholt. Diese gegenseitige Ausrichtung und Vernetzung soll die anderen Disziplinen für die angehenden Biologinnen und Biologen relevanter und spannender machen. «So wird beispielsweise ein Kollege der Erdwissenschaften mit seiner Expertise aufzeigen, wie die Erde ohne Leben ausgesehen hat und welche dramatischen Veränderungen der Erde von biologischen Prozessen ausgelöst worden sind», führt Vorholt aus. «Das soll gleich am Anfang des Studiums den Blick für grosse Zusammenhänge öffnen, bevor wir in die molekularen Grundlagen der Lebensprozesse einsteigen.»
Zukunftsweisende Lehrgänge
Im Unterschied zu den beiden erwähnten Studiengangsinitiativen, die den aktuellen Kenntnisstand in ihrem Fach durch eine Neuanordnung der Lehrinhalte in den Unterricht einfliessen lassen, führt der Wissenszuwachs an anderen Orten zur Entstehung völlig neuer Lehrgänge. So haben die beiden Schwesternschulen ETH Zürich und EPFL im Herbst 2019 den Master-Studiengang «Cyber Security» lanciert. «Mit dem gemeinsamen Ausbildungsgang bündeln wir die Stärken unserer beiden Hochschulen in einem für unser Land zentralen Bereich», sagt ETH-Präsident Joël Mesot.
In diesem Master-Programm befassen sich Informatikstudierende nach ihrem Bachelor-Abschluss vertieft mit Aspekten der Kryptografie und der Sicherheit von Hardware, Software und Netzwerken. Ausserdem setzen sie sich mit Methoden zur Gewährleistung des Nutzervertrauens auseinander. Als gut ausgebildete Fachleute sollen sie dereinst unserer zunehmend vernetzten Gesellschaft helfen, sich gegen Bedrohungen wie Datendiebstähle oder Angriffe auf wichtige Infrastrukturen zu wappnen.
Ähnlich zukunftsweisend ist das ebenfalls im Herbst 2019 gestartete Master-Programm «Quantum Engineering». Dieser Ausbildungsgang steht Studierenden mit Bachelor-Abschlüssen in Physik oder in Informationstechnologie und Elektrotechnik offen. Ihnen werden – in einer projektbasierten Lernumgebung, in der gemischte Teams aus Ingenieuren und Physikerinnen zusammenarbeiten – sowohl die grundlegenden Gesetze der Quantentheorie vermittelt wie auch die notwendigen Ingenieurskompetenzen, um Quantenprozesse zu implementieren, zu messen und zu kontrollieren.
Andreas Vaterlaus sieht diese neuen Angebote auf Master-Stufe als Bereicherung für die Studierenden. Dass der Unterricht an der ETH in einem fortlaufenden Prozess ständig revidiert wird, bedeute natürlich Aufwand für alle Beteiligten und erfordere die Bereitschaft sowie die Offenheit der Dozierenden, sich immer wieder auf Neues einzulassen. Doch nur so könne sichergestellt werden, dass die Studierenden während ihrer Ausbildung den «richtigen Rucksack» und somit auch weiterhin das Rüstzeug erhielten, um die Zukunft mitzugestalten.
Dieser Text ist im Geschäftsbericht 2019 erschienen.