Kalkulieren oder co-kreieren?
Schönheit liegt im Auge des Betrachters – doch wie finden wir einen Konsens, wenn es um ein geteiltes Gut wie die Nachbarschaft geht? Auf einem Stadtspaziergang erklären zwei Architekt:innen der ETH, wie sie ihre Rolle im Spannungsfeld von Verdichtung, Funktionalität und Schönheit wahrnehmen.
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Zu unseren Füssen spannt sich eine riesige Karte auf. Bunte Fäden und Pfeile verbinden die Papierkreationen darauf zu einer neuen Welt – einer neuen Lesart von Altstetten. Im sogenannten Design in Dialogue Lab am NEWROPE-Lehrstuhl für Architektur und Urbane Transformation versucht Professor Freek Persyn gemeinsam mit Studierenden Altstetten und dessen künftige Verdichtung besser zu verstehen und neu zu denken. «Im Lab diskutieren wir mit Akteuren, die in die Transformation des Quartiers eingebunden sind: Quartiervereine, Bewohnerinnen, Developer, Bewirtschafterinnen von Familiengärten oder Architekten mit alternativen Vorschlägen. So können wir Altstetten aus neuen Perspektiven kennenlernen», erzählt Kursleiter Lukas Fink. Denn Altstetten hat gemäss dem Richtplan der Stadt Zürich grosses Potenzial zur inneren Verdichtung. Das sieht auch Freek Persyn so: «Altstetten ist noch nicht metropolitan, könnte es aber werden.» In seinem Studio möchte er nicht nur ein gemeinsames Verständnis des Ortes erarbeiten, sondern auch diskutieren, welche Entwicklung in diesem Kontext sinnvoll ist. «Bei der Verdichtung geht es nicht nur um Zahlen, sondern auch darum, wie wir neue Verbindungen schaffen und an Bestehendes anknüpfen», erklärt Persyn.
Für Sibylle Wälty sind Zahlen zentral: Die promovierte ETH-Forscherin hat eine wirksame Innenentwicklung empirisch berechnet. Gestützt auf ihre Analysen von Schweizer Siedlungsstrukturen ermittelte sie, wie eine kompakte Stadt aussehen müsste, die eine hohe Alltagsversorgung in kurzen Distanzen gewährleistet: «Zehn-Gehminuten-Nachbarschaften», die gut an den öffentlichen Verkehr angebunden sind, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass zwischen Wohnen, Arbeiten und Versorgung höchstens ein zehnminütiger Fussmarsch liegt. «Die Zersiedelung würde eingedämmt, Einwohner, die dies wollen, wären nicht mehr abhängig vom Auto, und viele Infrastruktur- und Verkehrsprobleme könnten umgangen werden», sagt Wälty.
Was ist beim Thema Verdichtung wichtig, und welche Rolle spielt Schönheit dabei? Mit den beiden Architekt:innen machen wir uns auf, Altstetten und den Brupbacherplatz – die einzige Zehn-Gehminuten-Nachbarschaft Zürichs – zu erkunden.
Unsere erste Station: die Europabrücke. Obwohl solche Infrastrukturbauten wichtige Beziehungen im Stadtgewebe schaffen, sind sie auch Sorgenkinder der Stadtplanung: Oftmals in brutalistischer Weise aus Beton gebaut, entziehen sie sich der klassischen Vorstellung von Schönheit und sorgen für Diskussionen. Denn neben einer Verbindung entstehen durch solche Bauten oft auch «Unorte».
Sibylle Wälty: Bei einer Brücke stellt sich immer die Frage: Was platzieren wir darunter? Häufig sind es praktische Nutzungen wie hier: Parkplätze und ein eingezäuntes Lager – das macht Sinn.
Freek Persyn: Es gibt auch Leute, die unter dieser Brücke joggen. Für manche ist es wie ein Park, der zur Limmat führt. Es ist nicht einfach ein Unort – er kann für die Ansässigen eine grosse Bedeutung haben.
Wälty: Das stimmt, die Perspektive der Anwohner:innen unterscheidet sich teilweise stark von der Aussensicht. Von Auswärtigen werden brutalistische Bauten oft als hässlich empfunden.
Persyn: Ich denke, das liegt daran, dass Infrastrukturbauten in ihrer Schönheit schwer zu durchdringen sind. Es handelt sich um komplexe Orte, die man schätzen lernen muss. In unserem Studio stellen wir uns die Frage, wie man die Infrastruktur zu kollektiven Orten erweitern könnte. In Belgien gibt es ein Projekt, das die Infrastruktur am Sonntag für andere Nutzungen freigibt. Solche temporären Projekte können für eine Nachbarschaft wertvoll sein.
Wälty: Parkplätze ersatzlos zu streichen, wie dies heute geschieht, finde ich dagegen kontraproduktiv. Sie bringen Menschen ins Quartier – so können Läden und Dienstleister überleben. Parkplätze sollen erst dann zu Grünraum werden, wenn die Einwohnerzahlen im Quartier hoch genug sind.
Wir spazieren über namenlose Grünflächen zwischen Autostrassen und Brückenauffahrten, wo Altstetten bald um eine Schule erweitert wird. Hinter einer Baumreihe übt sich eine Gruppe im Pfeilbogenschiessen. Ein Discgolf-Korb macht klar, wie unterschiedlich die Massstäbe sind, die in Altstetten aufeinandertreffen. Dahinter – eingeklemmt zwischen Autobahn, Limmat und Europabrücke – formen die Hochhäuser der Siedlung Grünau einen eigenen Mikrokosmos.
Wälty: Die Grünau ist eine typische Wohnsiedlung der 1970er-Jahre: Ein Restaurant und ein Kiosk befinden sich direkt im Erdgeschoss. Die 1200 Grünaubewohner:innen bewirken allerdings keine ausreichende Nachfrage, damit ein vielfältiges Versorgungsangebot möglich ist.
Persyn: Das Problem ist, dass diese Nutzungen nicht an die Routen der Leute geknüpft sind. Wer mit dem Auto in die Tiefgarage fährt, kommt nie hier vorbei.
«Die Grünau ist nicht dicht genug, obwohl es aufgrund der Hochhäuser so aussieht.»Sibylle Wälty
Wälty: Es bräuchte einen gewissen Menschenstrom – eine Einwohner- und Beschäftigtendichte wie bei der Zehn-Gehminuten-Nachbarschaft. Die Grünau ist nicht dicht genug, obwohl es aufgrund der Hochhäuser so aussieht.
Persyn: Ich persönlich finde die Siedlung Grünau schön: Es ist grosszügig hier und eine Welt für sich. Wir müssen aufpassen, dass wir solche Orte nicht aufgrund von Vorurteilen abreissen. Sie haben ihre Qualitäten und fordern unsere vorgefertigten Ideen heraus. Im Studio analysieren wir die Siedlung und die Routen von Fussgängerinnen, um herauszufinden, wo sich die Leute treffen und wie die öffentlichen Räume funktionieren.
Wälty: Wenn wir unternutzte Standorte mit gutem ÖV-Anschluss wie die Grünau nicht verdichten, fördern wir die Zersiedlung. Die haushälterische Nutzung des Bodens im Einklang mit dem von der Stadt Zürich kürzlich angenommenen Klimaziel Netto-Null 2040 verlangt mindestens 10 000 Einwohner in einem 500-Meter-Radius sowie ein 2:1-Verhältnis zwischen Einwohnern und Vollzeitbeschäftigten. Das Quartier Grünau hat 3300 Einwohner, aber 10 450 Beschäftigte: Das hat negative Folgen für Verkehr, Flächenverbrauch, CO2-Emissionen, Immobilienpreise und Segregation.
Persyn: Auf mich wirkt die Rechnung, als ob alles klar wäre, aber die Frage ist doch: Welche Qualitäten wollen wir erhalten und stärken? Wir haben mit den Bewohnern von der Siedlung Grünau gesprochen: Sie schätzen den Inselcharakter der Siedlung, das Gemeinschaftsgefühl.
Wälty: Bei der Raumplanung geht es nicht nur um die Bewohnerinnen und Bewohner einer Siedlung, sondern auch um die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Umwelt. Dass die Transformation einer Nachbarschaft deren Qualität verschlechtert, ist eine falsche Annahme.
«Es gibt Orte, die sich den gängigen Schönheitsvorstellungen entziehen. Sie bieten dadurch bestimmten Nutzergruppen eine Nische.»Freek Persyn
Verdichtungsprojekte haben grosse Auswirkungen auf das Leben der Anwohner, dennoch findet meist kein Dialog zwischen Entwicklern und der Bevölkerung statt. Wir wandern weiter zum Lindenplatz, wo mehrere soziale Untergruppen aufeinandertreffen. Diese laufen Gefahr, durch die umliegenden Entwicklungsprojekte verdrängt zu werden.
Persyn: Ein Student bemerkte: «A clean Lindenplatz is not a real Lindenplatz.» Es gibt Orte, die sich den gängigen Schönheitsvorstellungen entziehen. Sie bieten dadurch bestimmten Nutzergruppen eine Nische.
Wälty: Hätte man beispielsweise den Rosengartentunnel angenommen, würde dort bald eine ganz andere Klientel wohnen, weil es keinen Lärm mehr gäbe.
Persyn: Wann immer sich die Konditionen ändern, muss man sich fragen, wer davon profitiert. Paradoxerweise kann eine Randgruppe davon profitieren, wenn finanziell weniger investiert wird – Stichwort Re-Use.
Wälty: Re-Use ist auch bei der Ressource Boden wichtig: Es kann nicht sein, dass die Raumplanung die Verdichtung an zentralen Lagen nicht prüft. Wohnraum mit gutem ÖV-Anschluss, nahen Arbeitsstellen und Freizeitangebot ist knapp. Dadurch steigen die Immobilienpreise. Die Stadtplanung muss sozioökonomische Zusammenhänge mit der nötigen Weitsicht analysieren und berechnen.
Persyn: Die Grenzen um ein solches Problem zu ziehen, ist sehr schwierig. Deshalb haben wir die Methode «Design in Dialogue» entwickelt. Wir wollen gemeinsam lernen, unsere Rollen hinterfragen und Konflikte produktiv nutzen. Alle – besonders die Einwohner – können etwas beitragen.
Wälty: Meine Devise ist: Rechnen, reden, umsetzen! Ideen, die in der Diskussion entstehen, nehme ich auf und berechne neu. In diesem Prozess entsteht ein Regelwerk für eine gemeinsam getragene, langfristige Vision.
Die Zahlen stimmen, so Wälty, in der Nachbarschaft am Brupbacherplatz. In einem 500-Meter-Radius wohnen 16 000 und arbeiten 9300 Personen. Dieser Standort erfüllt als einziger im Grossraum Zürich die Mindestanforderungen der Zehn-Gehminuten-Nachbarschaft. Bei unserer Ankunft stehen die Leute bereits Schlange an der Gelateria di Berna. Farbige Fähnchen, dänische Designervelos, eine Mutter mit Kinderwagen und Hund: das typische Zürcher Familienquartier für Gutbetuchte. Ist das die ideale Nachbarschaft?
«Die Zehn-Gehminuten-Nachbarschaft steht für bestimmte Werte. Wir brauchen eine neue Raumplanungskultur, die diese Werte in Beziehung setzt und abwägt.»Freek Persyn
Persyn: Die Zehn-Gehminuten-Nachbarschaft scheint mir eine interessante Idee, um die Leute herauszufordern, aber nicht als Schablone für alles. Der städtische Raum ist zu vielfältig dafür. Auch für Nähe, denke ich, gibt es unterschiedliche Massstäbe: Welchen Radius brauchst du wöchentlich oder monatlich?
Wälty: Die Nahversorgung verlangt standortspezifische raumplanerische Massnahmen und wird noch zu wenig berücksichtigt. Bislang fehlt das Bewusstsein für die Zusammenhänge der Siedlungsplanung mit Verkehr, Flächenverbrauch, Segregation und Immobilienpreisen. Mein Verein WALK10min sensibilisiert die Beteiligten für das Thema. Wir brauchen Siedlungsstrukturen, in denen wir unseren Alltag zu Fuss meistern können: Wir wären gesünder, hätten weniger Krankenkassenkosten und bräuchten weniger Infrastruktur.
Persyn: Dem stimme ich zu. Um die Leute zum Laufen zu motivieren, braucht es eine angenehme und stimulierende Umgebung.
Wälty: Richtig, mit vielfältigen Erdgeschossnutzungen beispielsweise. Sie erhöhen die Fussgängerzahlen und beleben das Quartier. Das macht einen Ort attraktiv.
Persyn: Ich denke, wir müssen solche Dinge hinterfragen. EG-Nutzungen müssen nicht kommerziell sein, sie könnten auch sozial sein. Ebenso müssen wir Schönheit hinterfragen: Sie ist nur einer von vielen Werten. Es geht auch um Orientierung, die Angemessenheit eines Ortes, das Klima. Wir sollten die Werte so explizit machen wie die Lösung. Die Zehn-Gehminuten-Nachbarschaft steht für bestimmte Werte, die wir kommunizieren sollten. Und wir brauchen eine neue Raumplanungskultur, die diese Werte in Beziehung setzt und abwägt.
Kalkulieren oder co-kreieren? Die beiden Architekt:innen sind sich einig, dass beides nötig ist, um eine dichte Nachbarschaft zu gestalten, die den Einwohnern gefällt. Welche Schweizer Eigenschaft dabei oft im Weg steht, ist für Persyn klar: «Konfliktscheue führt zu Mikromanagement, dabei könnte man aus Konflikten so viel lernen.»
Zu den Personen
Freek Persyn ist Professor für Architektur und Urbane Transformation und Leiter des Instituts für Landschaft und Urbane Studien.
Sibylle Wälty forscht und lehrt am ETH Wohnforum – ETH CASE. Im Rahmen des MAS / CAS ETH in Mobilität der Zukunft fokussiert sie ihre Lehre auf Zehn-Minuten-Nachbarschaften.
Beide sind Teil des FCL-Global-Projekts «Dense and Green Cities» unter der Leitung von Sacha Menz, wo sie die Transformations- und Verdichtungsdynamik von Altstetten erforschen.
«Globe» Schönheit & Wissenschaft
Dieser Text ist in der Ausgabe 22/02 des ETH-Magazins Globe erschienen.