"KI hilft uns, mehr und komplexere Fakten zu erfassen"
Seit 2003 hat Joachim Buhmann als ETH-Professor die explosionsartige Entwicklung des maschinellen Lernens mitgestaltet. Sorge bereitet ihm nicht der technische Fortschritt, aber der Umgang der Gesellschaft damit. Kurz vor seiner Emeritierung blickt er auf seine Karriere zurück.
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Joachim Buhmann, warum sind Sie Wissenschaftler geworden?
Buhmann: Es gibt eine grossartige Antwort von Luc Ferry, einem französischen Philosophen und ehemaligen Bildungsminister. Es geht dabei um die Frage, warum Menschen nach ihrem Tod etwas hinterlassen wollen. Dies kann dadurch erreicht werden, dass wir Nachkommen zeugen und grossziehen oder als Lehrpersonen andere ausbilden und inspirieren. Das grösste Vermächtnis hinterlassen laut Ferry jedoch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, da sie durch ihren Erkenntnisgewinn einen dauerhaften Beitrag für die Menschheit als Ganzes leisten. Ob ich damit erfolgreich war oder nicht, das sollen andere beurteilen. Ich glaube aber, dass ich als Wissenschaftler zumindest versucht habe, wichtige Fragen zu beantworten und neue Erkenntnisse zu gewinnen, und einige meiner Doktorierenden haben sicherlich neues Wissen mitgenommen, das sie dann weiterentwickelt haben.
Wussten Sie schon zu Beginn Ihrer Karriere, dass Sie an einer Universität forschen wollten?
Buhmann: Es war eine Art Idealvorstellung, aber ich war nie von der Idee besessen, unbedingt Professor werden zu müssen. Nach meiner Zeit als Postdoc in Kalifornien war ich dafür recht aufgeschlossen, weil meine Kinder bereits älter waren. Meine Frau und ich bekamen unsere Kinder in unseren Zwanzigern und ich wurde im Alter von 32 Jahren an der Universität Bonn ausserordentlicher Professor. Ich bin überzeugt, dass das Glück bei meiner Karriere eine Rolle gespielt hat. Es hätte sicherlich auch ganz anders kommen können.
Hätten Sie einen Plan B gehabt?
Buhmann: Mein Plan B wäre gewesen, in ein Forschungslabor oder die Industrie zu gehen. Im Bereich Maschinelles Lernen gab es bereits in den 1990er-Jahren Optionen, wenn auch nicht so viele wie heute.
Zur Person
Joachim Buhmann war von 1992 bis 2003 Professor für praktische Informatik an der Universität Bonn, bevor er einem Ruf der ETH Zürich folgte und ordentlicher Professor für Informatik wurde. In Lehre und Forschung konzentrierte er sich auf Fragestellungen auf den Gebieten der Mustererkennung und der Datenanalyse, was unter anderem auch das maschinelle Lernen, die statistische Lerntheorie und die angewandte Statistik umfasst. Professor Buhmann übernahm an der ETH wichtige Verwaltungsfunktionen. Dazu zählen das Amt als Prorektor für Studium (2014-2018) und die Leitung des Instituts für maschinelles Lernen (2014-2023). Seit 2017 ist er zudem Mitglied im Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds.
Sie haben zunächst an der TU München Physik studiert und später in theoretischer Biophysik promoviert. Wie sind Sie zum maschinellen Lernen gekommen?
Buhmann: Mein Doktorvater war theoretischer Biophysiker, aber meine Forschung konzentrierte sich auf die Speicherkapazität von sogenannten Hopfield-Netzen. Dabei handelt es sich um eine besondere Art von künstlichen neuronalen Netzen. Wenn man solche Modelle untersucht, dann ist man im Grossen und Ganzen bereits im gleichen akademischen Garten wie die Informatik unterwegs. Es ist nicht mehr nur reine Physik, denn es geht nicht um unbelebte Materie, sondern um die Informationsverarbeitung. Dieser Bereich war damals noch nicht vollständig in der Informatik angekommen, aber er ist eindeutig Teil des Fachs. Später in meiner Karriere zog ich nach Bonn und arbeitete als ausserordentlicher Professor für praktische Informatik weiter auf dem Gebiet der neuronalen Netze.
Warum sind Sie an die ETH gekommen?
Buhmann: In Bonn hatte ich keine Aufstiegsmöglichkeiten. Als ich 43 Jahre alt war, erhielt ich die Chance, ordentlicher Professor an der ETH Zürich zu werden. Die ETH hatte damals wie heute einen hervorragenden Ruf, auch wenn die Universität Bonn in Deutschland in Mathematik - dort war damals die Informatik angesiedelt - ebenfalls hervorragend war. Meine Frau und ich hatten zwar bereits ein Haus in Bonn gebaut, aber da unsere Kinder mit der Schule fast fertig waren, bot sich ein Wechsel zu diesem Zeitpunkt an.
Woran haben Sie in Ihrer Forschungskarriere hauptsächlich gearbeitet?
Buhmann: Schon bevor ich an die ETH Zürich gekommen bin, habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie sogenannte Gruppierungsalgorithmen ihre Daten in verschiedene Gruppen einteilen. Diese Zuteilung funktioniert anders als bei Klassifizierungsalgorithmen. Bei Klassifizierungsalgorithmen werden Daten meist von einem Menschen händisch annotiert und mit diesen Annotationen werden die Algorithmen dann trainiert. Man möchte beispielsweise Bilder von Hunden und von Katzen in zwei Gruppen automatisch einteilen und legt an einem Trainingsdatensatz zuvor fest, dass ein Bild entweder in die Gruppe «Hund» oder die Gruppe «Katze» eingeordnet werden soll.
Bei Gruppierungsalgorithmen gibt es keine zuvor definierten Labels, es ist also keine vorgegebene Klasse «Hund» oder «Katze» vorhanden. Trotzdem soll der Algorithmus am Schluss alle Objekte mit einem Label versehen. Ich wollte nun herausfinden, wie die Algorithmen bei der Gruppierung vorgehen, wenn es kein Qualitätsmass gibt, an dem sie sich orientieren können.
Wozu dienen solche Algorithmen?
Buhmann: Ich habe diese Theorie in verschiedenen biologischen und medizinischen Projekten angewandt. Der Ansatz der Gruppierungsalgorithmen spiegelt die Situation wider, in der sich ein Arzt befindet, der von einem Röntgenbild und weiteren Informationsquellen eine Ergebnisvorhersage für die Überlebenswahrscheinlichkeit seines Patienten oder seiner Patientin treffen muss.
Wie hat sich Ihr Forschungsfeld in den letzten zwanzig Jahren verändert?
Buhmann: Ich hatte nicht vorhergesehen, dass mein Forschungsbereich in den letzten 15 Jahren dermassen explodieren wird. Es sind unglaublich spannende Zeiten. Der aktuelle Aufschwung der Künstlichen Intelligenz betrifft alle Wissenschaften und ist für mich mit der Einführung der Quantenmechanik in der Physik vergleichbar. Als ich ans Departement Informatik gekommen bin, interessierte sich kaum jemand für maschinelles Lernen. Heute gibt es ein Institut für Maschinelles Lernen mit 11 Professorinnen und Professoren.
Sehen Sie diesen Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz eher mit Sorge oder Begeisterung entgegen?
Buhmann: Über die Entwicklung in der Wissenschaft bin ich nicht besorgt. Meine Sorge besteht, wenn überhaupt, darin, dass die Gesellschaft die Folgen dieser wissenschaftlichen Fortschritte möglicherweise nicht genügend versteht oder vorhersehen kann. Die künstliche Intelligenz ist eine Technologie, die das menschliche Denken verbessert, indem sie die Grenzen der menschlichen Kapazität, Fakten zu speichern und Komplexität zu erfassen, enorm erweitert. Denn das menschliche Gehirn neigt dazu, Details zu ignorieren und sich auf das grosse Ganze zu konzentrieren, also zu abstrahieren. Es ist ein wichtiger Bildungsauftrag, dass die Gesellschaft lernt, wie diese Systeme auf ethisch korrekte Weise eingesetzt werden können. Es müssen neue Verfahren entwickelt werden, um Transparenz, Verantwortung und Fairness bei der Anwendung dieser Programme zu gewährleisten.
An der ETH waren Sie sowohl Forscher als auch Dozent und haben einige Verwaltungsrollen übernommen. Wie blicken Sie auf Ihre Zeit als Prorektor zurück?
Buhmann: Man wird mit Fragen konfrontiert, die sich an einer Schnittstelle befinden zwischen dem vorgefertigten Regelwerk und einer empathischen, ethisch korrekten Einzelfallbeurteilung. Die Entscheidungen, die man fällt, haben für jemanden signifikante Einschränkungen in seinen Lebensoptionen. Man muss zum Beispiel entscheiden, ob eine Person aus dem Studium ausgeschlossen wird. Das sollte zwingend von einem sehr guten Grund begleitet sein und nicht auf den Zufälligkeiten von irgendwelchen Prozessen beruhen. Die Rolle als Prorektor war sicherlich eine Herausforderung, aber ich glaube, dass ich da mit Augenmass vernünftige Lösungen beisteuern konnte.
Gibt es etwas, das Sie in Ihrer Zeit als Prorektor dazugelernt haben?
Buhmann: Ich bin in erster Linie Wissenschaftler geworden, um zu forschen. Neben dem Produzieren neuen Wissens habe ich aber als Hochschullehrer auch die Verantwortung, bestehendes Wissen weiterzugeben. Während meiner Zeit als Prorektor habe ich gelernt, dass die erste Priorität der Universität immer die Lehre ist und die Forschung erst an zweiter Stelle folgt. Da sich die Qualität der Forschung aber leichter messen lässt, wird ihr oft mehr Bedeutung beigemessen als der Lehre. Studierende sollen an den Universitäten in erster Linie zu intelligenten Problemlöserinnen und Problemlösern ausgebildet werden, die auch unter grosser Unsicherheit vernünftige Entscheidungen treffen können – egal ob sie nachher in die Industrie gehen oder an der Universität bleiben.
Sie werden im kommenden Juli emeritiert, haben Sie konkrete Pläne für danach?
Buhmann: Meine Familie ist relativ gross. Wir erwarten bald das achte Enkelkind. Da kommen sicherlich einige Aufgaben auf mich zu. Beruflich habe ich mich nicht auf eine direkte Anschlussbeschäftigung vorbereitet und bin auch nicht aktiv auf der Suche nach einer solchen. Ich möchte aber meine Kontakte zum Institut aufrechterhalten und versuchen, mich als emeritierter Professor nützlich zu machen. Ich denke auch, dass ich weiterhin forschen werde, aber wahrscheinlich weniger als bisher. Gerne würde ich meine Zeit und Expertise auch in die Öffentlichkeitsarbeit einbringen, um die Gesellschaft bei dieser digitalen Transition zu unterstützen.
Lesen Sie das Interview in voller Länge auf der Website des Departements Informatik.