Doch früher als gedacht
Wann genau taucht das verschollene US-Flugzeug «Dakota» wieder aus dem Gauligletscher auf? Radioaktive Spuren aus dem Kalten Krieg zeigen nun: Offenbar schon in der nächsten Zeit.
Es war eine Zeit, die markante Spuren hinterliess: Als die Grossmächte in den 1950er- und 1960er-Jahren oberirdische Atomwaffentests durchführten, lagerten sich auf der ganzen Welt radioaktive Substanzen auf der Erdoberfläche ab. Noch heute kann man beispielsweise in Seesedimenten anhand dieser Stoffe erkennen, wo sich das Material aus dieser Zeit befindet.
Methode funktioniert auch in den Alpen
Das gilt grundsätzlich auch für Gletschereis. Wissenschaftler nutzen daher diese Rückstände auch zum Datieren von Gletschereis – bisher allerdings nur bei kalten Gletschern, die sich nicht oder kaum bewegen, weil sie sich auf einer ebenen Unterlage befinden, so wie das beispielsweise in der Antarktis oder in Grönland teilweise der Fall ist. Bei temperierten alpinen Gletschern hingegen war unklar, ob die Methode funktionieren würde. Man nahm an, die radioaktiven Spuren würden durch die Dynamik und das Schmelzwasser des Eises stark verwischt, so dass sie nicht mehr zur Datierung gebraucht werden könnten.
Doch dem ist nicht so, wie nun Guillaume Jouvet von der ETH Zürich und der Universität Zürich zusammen mit Wissenschaftlern der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie an der ETH Zürich (VAW), dem Labor Spiez und Angehörigen des ABC Abwehrlabor 1 der Armee in einer neuen Publikation zeigen. Ausgangspunkt für die Studie war eine Anfrage der Schweizer Armee, die sich anerbot, spezialisierte Soldaten auf den Gauligletscher zu schicken, um dort Eisproben zu entnehmen. Das Labor Spiez sollte diese anschliessend zusammen mit Armeeangehörigen auf radioaktive Substanzen hin untersuchen. Dieses Labor verfügt als nationales Referenzlabor über die notwendige Ausrüstung für solche delikaten Messungen.
Fehlerhafte Prognose
Die Frage war nun: Wo genau sollten die Soldaten den Eisbohrer ansetzen, damit sie tatsächlich Eis aus jener Zeit finden? Die ETH-Forschenden konnten diese Frage beantworten. Sie verfügten über ein Computermodell, mit dem sie die Bewegung des Gletschers rekonstruieren konnten und damit auch, wo man Eis aus den 1950er- und 1960er-Jahren findet. Just mit diesem Modell hatten sie kurz zuvor berechnet, wann und wo die Überreste der legendären «Dakota» auftauchen würden. Das US-amerikanische Militärflugzeug stürzte 1946 im Berner Oberland ab und ist seither im Eis des Gauligletschers verschollen. Erst vor wenigen Jahren tauchten die ersten Bruchstücke der Maschine an der Oberfläche auf.
Die ETH-Forscher mussten allerdings eingestehen, dass sie mit ihrer Berechnung falsch lagen. In keiner der im Jahr 2018 gesammelten Eisproben liess sich Plutonium aus der Zeit der Atomwaffentests nachweisen. «Dass wir mit unseren Berechnungen falsch lagen, ist an sich nicht so überraschend», relativiert Jouvet den Fehlschlag. «Unser Modell setzt voraus, dass wir möglichst genaue Daten zu den abgelagerten Mengen an Schnee im oberen Teil des Gletschers, zur Eisschmelze und zu den Fliessbewegungen des Eises haben», erläutert Jouvet. Leider gibt es diese Daten für den Gauligletscher nicht. Wir mussten sie daher indirekt aus Klima- und Fernerkundungsdaten bestimmen. Weil diese geschätzten Daten zwangsläufig ungenau sind, werden die Modellergebnisse umso fehleranfälliger, je länger der Ausgangspunkt für die Berechnungen zurückliegt.»
Erfolgreiche zweite Kampagne
Da die chemische Analyse zeigte, dass die vorhandenen Eisproben nicht die ganze Periode der Atomwaffentests abdeckten, führte die Schweizer Armee im Sommer 2019 eine zweite, breiter abgestützte Messkampagne durch. Für die spezialisierten Soldaten war es eine willkommene Trainingsgelegenheit, müssen sie doch im Ernstfall in der Lage sein, Spuren von chemischen, biologischen oder nuklearen Waffen nachzuweisen. Dank dem günstigen Wetter konnten die Soldaten an über 200 Punkten Proben nehmen. Insgesamt wurden auf einer Länge von rund zwei Kilometern und über die ganze Breite des Gletschers verteilt fast eine halbe Tonne Eis entnommen. Diese wurde anschliessend im Labor Spiez radiochemisch aufbereitet und analysiert – diesmal mit Erfolg.
«In den Bohrkernen der zweiten Kampagne sind die zwei Hauptpeaks der Verschmutzung mit radioaktiven Stoffen aus den Jahren 1957 und 1962 gut zu erkennen, bevor die Kontamination dann nach 1963 abrupt abbricht», berichtet Jouvet. Basierend auf den neuen Messdaten konnten die Forscher das Fliessmodell neu kalibrieren. Insgesamt zeigt sich, dass sich der Gauligletscher offenbar schneller talwärts bewegt hat als man bisher dachte.
Den Gletscher neu kartiert
Anhand der neuen Ergebnisse können die Forscher nun den gesamten Gletscher anhand des Alters des Eises kartographieren. Die Karte zeigt, dass sich das älteste Eis im unteren Teil der Gletscherzunge befindet, während das jüngste Eis im oberen Teil liegt. «Eine solche Karte gab es in dieser Form bisher noch nicht», erklärt Jouvet. «Sie könnte auch für andere Wissenschaftler hilfreich sein, die Eis aus dem letzten Jahrhundert untersuchen wollen. Dank unserer Karte sehen sie sofort, wo sie dieses finden, ohne dass sie dazu teure und komplexe Tiefenbohrungen durchführen müssen.»
Die neuen Daten erlauben auch eine bessere Prognose, wann die Dakota wieder auftauchen wird. In einer früheren Schätzung kamen die ETH-Forschenden zum Schluss, der grösste Teil des Wracks werde etwa 1 Kilometer oberhalb der bereits gefunden Teile auftauchen. «Diese Diskrepanz erklärten wir uns damals damit, dass nach dem Absturz gewisse Teile der Maschine ein Stück weit gletscherabwärts transportiert worden waren», erläutert Jouvet. Diese Erklärung ist nun nicht mehr nötig: Aufgrund der neuen Daten rechnet er damit, dass der grösste Teil des Wracks bereits in den kommenden Jahren relativ nahe der bisherigen Funde auftauchen wird.
Literaturhinweis
Jouvet G, Röllin S, Sahli H, Corcho J, Gnägi L, Compagno L, Sidler D, Schwikowski M, Bauder A, Funk M: Mapping the age of ice of Gauligletscher combining surfaceradionuclide contamination and ice flow modeling. The Cryosphere 2020, 14: 4233, doi: externe Seite 10.5194/tc-14-4233-2020