Wissen, wo die Erde bebt

Ein europaweites Konsortium hat das erste harmonisierte Referenzmodell zur Erdbebengefährdung Europas und der Türkei herausgegeben – die «European Seismic Hazard Map 2013 ». Diese dient der Ausarbeitung von europäischen und nationalen Baunormen für erdbebensicheres Bauen. Auch Behörden, Versicherungen und nicht zuletzt Schulen können die Karte verwenden.

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Die Gefährdungskarte für Europa zeigt, wo welche horizontalen Bodenbewegungen auftreten können und daran gekoppelt entsprechende Erdbeben auslösen. (Karte: SHARE-Konsortium)

Italien, Island, Griechenland, Türkei: In der Vergangenheit kam es in diesen Ländern wiederholt zu verheerenden Erdbeben. Aber auch ausserhalb dieser hoch gefährdeten Regionen kann es ordentlich «schütteln». Wer baut, versichert oder die Bevölkerung und kritische Infrastrukturen schützen will, braucht deshalb eine solide Kenntnis der Gefährdungssituation. Diese Grundlage liefert nun das SHARE-Konsortium (SHARE=Seismic Hazard Harmonization in Europe) unter der Leitung des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED) und des Instituts für Geophysik an der ETH Zürich. Dieses Konsortium hat kürzlich für ganz Europa und die Türkei eine neue Gefährdungskarte, die «European Seismic Hazard Map 2013», veröffentlicht.

Gefährdung für 120‘000 Orte abgebildet

Diese Karte bildet als ein massgebendes Ergebnis des gesamten Gefährdungsmodells die Erdbebengefährdung an 120‘000 Orten Europas und der Türkei ab. In verschiedenen Farbstufen stellt sie dar, welche Stärke Bodenbewegungen mit einer 10 prozentigen Wahrscheinlichkeit in 50 Jahren im langfristigen Mittel erreichen oder überschreiten werden. Als Mass für die Stärke verwenden die Forscher die Bodenbeschleunigung, mit welcher der Untergrund bei einem Beben in horizontale Bewegung versetzt wird. Die Schweiz ist darauf mehrheitlich als gering gefährdet eingestuft– mit Ausnahme des Wallis‘ und der Region Basel, für die eine mittlere Gefährdung prognostiziert ist.

Die «European Seismic Hazard Map 2013» ist das plakativste Resultat des SHARE-Konsortiums. «Das Modell, das hinter diesem Kartenwerk steht, ist zu komplex, als dass es in nur einer einzigen Europakarte abgebildet werden könnte», sagt Jochen Wössner, wissenschaftlicher Mitarbeiter des SED und SHARE-Projektmanager. Alle Produkte des Konsortiums wie Karten, Eingangsdaten, Resultate und die Dokumentation sind deshalb in einer Datenbank an der ETH gespeichert und auf der externe Seite Website der «European Facility for Earthquake Hazard and Risk» frei zugänglich. Auf der Projektseite von externe Seite SHARE finden sich alle weiteren Details des Projektes und Erklärungen zu den Karten.

Erste europaweit harmonisierte Karten

Als Eingangsdaten analysierten die Wissenschaftler die 68'000 Kilometer an aktiven Verwerfungen in Europa und der Türkei und erstellten ein Modell der Verschiebungsraten tektonischer Platten. Mehr als 30'000 Erdbeben mit einer Magnitude 3,5 oder grösser wurden in einem Katalog harmonisiert. Vor allem die Stärkenangaben wurden kalibriert. Dieser Erdbebenkatalog umfasst alle seit dem Jahr 1000 historisch dokumentierten und in der Neuzeit gemessenen Beben. Die Forschenden kombinierten in einem statistischen Verfahren diese Daten mit den neuesten empirischen Modellen, welche die Ausbreitung der seismischen Bodenbewegungen beschreiben. Daraus errechneten sie an jedem Punkt die Gefährdung und stellten dies in Karten dar.

An SHARE beteiligt waren 18 Institutionen aus 14 Ländern Europas, Nordafrikas sowie der Türkei. Mehr als 300 Forscherinnen und Forscher haben am neuen Gefährdungsmodell mitgearbeitet. Viele der Forscherinnen und Forscher wurden zu Workshops eingeladen und stellten ihre Expertise und Daten ohne finanzielle Abgeltung frei zur Verfügung – ganz im Sinn des Projektakronyms «SHARE».

Schweizer Erdbebendienst bereitete Weg

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Das SHARE-Konsortium hat die Daten von allen registrierten Erdbeben in Europa und des Mittelmeerraumes in einem Katalog zusammengetragen. (Grafik: www.efehr.org)

Die grosse Errungenschaft dieses Gefährdungsmodelles ist, dass jetzt alle europäischen Länder über homogene Referenzdaten verfügen, mit denen sie auf Länderebene weiterarbeiten können. Zudem sind die Gefährdungswerte nun vergleichbar. Bis anhin änderten sie sich aufgrund einzelner nationaler Projekte teilweise sprunghaft an den Ländergrenzen.

Die ersten Versuche, eine homogene Gefährdungskarte für Europa zu erstellen, lancierte der Schweizerische Erdbebendienst 1995. Das Produkt der damaligen Initiative – eine im Vergleich zur aktuellen Version relativ einfache Karte - wurde 2000 publiziert. Zehn Jahre später machten neue Daten und Methoden eine Überarbeitung der Gefährdung notwendig. «Wir brauchten ein neues Modell, mit dem wir von der Gefährdung auch auf das Risiko schliessen können», sagt Domenico Giardini, Professor für Seismologie und Geodynamik sowie SHARE-Projektkoordinator. Das Risiko ergibt sich aus der Gefährdung sowie der Verletzlichkeit von Gebäuden und ihren Werten, die in einem Gebiet vorhanden sind.

Zudem setzte die EU im Jahr 2010 neue Baunormen, den Eurocode 8, in Kraft. Als Grundlage dazu dienten jedoch nationale Gefährdungskarten, die sich von Land zu Land unterscheiden. «Wir brauchten deshalb auch eine europäische Referenzkarte, weshalb die EU das SHARE-Projekt im Rahmen des siebten EU-Forschungsprogramms förderte», so der ETH-Professor. Das Kartenwerk ist der erste Schritt zur Bestimmung des europäischen Erdbebenrisikos.

Karten für den Unterricht

Von Nutzen sind die Karten besonders für Erdbebeningenieure, Baubehörden, Versicherungen oder den Zivilschutz, was sich aus den Zugriffsdaten auf die Projektwebseiten ablesen lässt. Auch der Energiesektor mit seinen kritischen Infrastrukturen hat grosses Interesse an den Resultaten, da sie die Grundlage für ein ebenfalls von der ETH koordiniertes EU-Projekt namens externe Seite STREST («Harmonized approach to stress tests for critical infrastructures against natural hazards») zur Erarbeitung von Richtlinien für Stresstests von kritischen Infrastrukturen sind.

Die Gefährdungskarten werden zudem europaweit Schulen für den Unterricht zur Verfügung gestellt. Mit dem Projekt «Seismo at School» soll sicher gestellt werden, dass die Erkenntnisse der Erdbebenforscher in die Köpfe der Kinder und Jugendlichen gelangen. «Damit wollen wir bewusst die Präventionskultur stärken», sagt Giardini.

Vorderhand müssen sich Baubehörden und -herren an die nationalen Vorgaben für erdbebensicheres Bauen halten. Den Regierungen der EU-Länder und der Türkei wird aber empfohlen, die neuen harmonisierten Daten als Grundlage für kommende Überarbeitungen der Länderkarten zu verwenden. Der Schweizerische Erdbebendienst an der ETH Zürich erarbeitet zur Zeit ein neues Erdbeben-Gefährdungsmodell für die Schweiz und berücksichtigt dabei Teile des SHARE-Modelle. Das Modell soll Ende 2014 veröffentlicht werden.

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Die SHARE-Produkte zeigen auf, wo Verwerfungen liegen und wie schnell sich die tektonischen Platten bewegen. (Grafik: www.share-eu.org)

Referenz

Giardini D., J. Woessner, L. Danciu, H. Crowley, F. Cotton, G. Grünthal, R. Pinho, G. Valensise, S. Akkar, R. Arvidsson, R. Basili, T. Cameelbeeck, A. Campos-Costa, J. Douglas, M. B. Demircioglu, M. Erdik, J. Fonseca, B. Glavatovic, C. Lindholm, K. Makropoulos, C. Meletti, R. Musson, K. Pitilakis, K. Sesetyan, D. Stromeyer, M. Stucchi, A. Rovida (2013), Seismic Hazard Harmonization in Europe (SHARE): Online Data Resource, doi: externe Seite 10.12686/SED-00000001-SHARE.

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