Wertvolle Langzeitdaten vom Clariden
Wissenschaftler messen auf dem Claridenfirn im Kanton Glarus seit 100 Jahren ununterbrochen den Zuwachs und das Abschmelzen des Eises. ETH-Gletscherforscher Andreas Bauder erklärt, was diese Messungen so speziell macht, und was sich daraus ablesen lässt.
ETH-News: Seit 100 Jahren messen Forschende den Zuwachs und die Schmelze des Claridenfirns. Was ist daran so speziell?
Andreas Bauder: Diese Messreihe ist weltweit einmalig, weil sie die längste dieser Art ist. Einmalig ist sie auch deshalb, weil sie seit Beginn der Kampagne in einem konstanten Detaillierungsgrad durchgeführt wird. Es handelt es sich nicht nur um einfache Messungen bei dem ein Messinstrument wie etwa ein Thermometer abgelesen wird. Die Messungen auf dem Claridenfirn sind viel aufwendiger.
Was messen die Gletscherforscher?
Zweimal pro Jahr suchen die Forscher die Messstandorte auf dem Firn auf. Bei jedem Besuch messen sie, wie viel Schnee in einem Winter hinzugekommen respektive im Sommerhalbjahr weggeschmolzen ist. Dafür reicht es allerdings nicht, eine Messstange ins Eis zu bohren und die Meterangabe abzulesen. Um die Massenveränderungen messen zu können, muss man einen Schacht bis hinab aufs Vorjahresniveau graben. Die neue Schicht wird dann detailliert vermessen. Wir erfassen nicht nur deren Dicke, sondern auch die Dichte des Schnee und Firns.
Wie tief müssen Sie jeweils graben?
Das ist sehr unterschiedlich. Im Frühling 2013 mussten wir sieben Meter tief graben, um auf das Niveau von Herbst 2012 zu gelangen. Kommt hinzu, dass der Schacht an der Oberfläche etwa so breit sein muss wie er tief werden soll. Auch gibt es harte Schichten, die man mit dem Pickel lösen muss. Dazu braucht man Platz. Wenn eine Schicht so hoch ist wie damals, vermessen wir sie etappenweise, von oben her beginnend. Dies ist sehr zeitintensiv.
Hat sich an diesem Vorgehen in den vergangenen hundert Jahren etwas verändert?
Nein, fast nichts. Wir gehen auch heute noch so vor wie die Begründer der Messreihe.
Das heisst, die Daten von früher sind vollumfänglich vergleichbar?
Ja, das sind sie. Dazu trägt auch die Lage des Claridenfirns bei. Dieser Gletscher liegt auf einem Plateau und fliesst südlich über eine Felsstufe talwärts. An den Messstandorten, die auf dem Plateau liegen, hat der Firn in all den Jahren kaum an Dicke verloren. Das heisst auch, dass die Messstandorte mehr oder weniger am gleichen Ort geblieben sind. Die topographischen Bedingungen sind über die vergangenen hundert Jahr erhalten geblieben.
Ist das der Grund, dass die Begründer der Messkampagne, darunter der bekannte Grönlandforscher Alfred de Quervain, diesen Ort auswählten?
Nein. Der Grund ist der, dass der Claridenfirn für die damalige Zürcher Gletscherkommission der Physikalischen Gesellschaft ein naheliegender Standort war, der auch regelmässig von Touristen aufgesucht wurde, die zusätzliche Informationen lieferten. Die Kommission initiierte die Messungen mit dem Ziel, den Niederschlag im Hochgebirge zu messen. Das ist allerdings nicht einfach. Schneefall kann man nicht mit den Trichtern messen, die für die Regenmessung gebraucht werden. Es ist deshalb verlässlicher, die Mächtigkeit einer Schneedecke zu messen.
Was zeigen nun diese langen Datenreihen?
Sehr oft wird bei Vermessungen von Gletschern die Massenbilanz des gesamten Gletschers gebildet. Das sagt etwas über den Wasserhaushalt des Gletschers aus, eignet sich aber nicht, um den Einfluss des Klimas auf den Gletscher abzuschätzen, denn an jedem Punkt eines Gletschers ist das Klima verschieden. Die Messdaten am Claridenfirn werden an zwei Messpunkten ausgeführt, sodass wir Rückschlüsse darauf ziehen können, wie sich das Klima an diesen Standorten auf den Gletscher auswirkt.
Und wie wirkt sich das Klima auf den Claridenfirn aus?
Bedeutende Faktoren sind Niederschlag, der für die Schneeakkumulation verantwortlich ist, die Strahlung und die Temperatur. Mit diesen Parametern kann man die Gletscherschmelze respektive den Zuwachs weitgehend erklären. Der Schneezuwachs über den Winter war über die vergangenen 100 Jahre Schwankungen unterworfen, blieb aber im grossen Ganzen konstant. Die Schmelze im Sommer hingegen zeigt grössere Schwankungen und ist intensiver geworden.
Was lässt sich sonst noch anhand der Daten sagen?
Bei der Analyse der Messreihe haben wir erkannt, dass die Verhältnisse während der letzten 100 Jahren nicht immer gleich waren. Die Lufttemperatur ist ein guter Indikator für das Ausmass der Gletscherschmelze. Setzt man aber die Schmelze direkt mit der Temperatur in Beziehung, dann kann man nicht die gesamte Menge der gemessenen Schmelze erklären. So gab es in den 1940er-Jahren mehrere Jahre, in denen der Gletscher stark schmolz, obwohl die Durchschnittstemperaturen zu jener Zeit kleiner waren als in den 1990er- und 2000er Jahren. Die Differenz der Schmelzmenge lässt sich auf eine höhere Intensität der Strahlung zurückführen. Dies belegt eine Strahlungsmessreihe aus Davos, die bis in die 1940er-Jahre zurückgeht. Aus diesen Daten geht ein Strahlungsmaximum in den 40er-Jahren hervor. Dies hat mit natürlichen Schwankungen und mit der Sauberkeit der Atmosphäre zu tun.
Langzeitmonitorings haben es in der modernen Wissenschaft schwer. Zu teuer, zu aufwendig, zu wenig wissenschaftliches Prestige. Wie geht es weiter auf dem Claridenfirn?
Die Sache ist zweischneidig. Solch lange Datenreihen sind in der Wissenschaft einerseits hoch begehrt, andererseits ist im heutigen Hochschulbetrieb die Finanzierung solcher langjähriger Messkampagnen nicht vorgesehen. Auch diese Messreihe lebt vom Enthusiasmus der Beteiligten. Zu Beginn waren Angehörige von Meteoschweiz die treibende Kraft, unterdessen sind es Privatpersonen wie der Leiter des Messprogramms, Giovanni Kappenberger. Er leitet das Programm seit 1978.
Hat das Messprogramm dank seiner Einmaligkeit Aussicht auf genügende Mittel?
Es gibt bis anhin keine nachhaltige Finanzierung. Wir sind derzeit daran, eine Lösung zu suchen. Es gibt eine Initiative des Bundes, mit der solche Messreihen weiter unterhalten werden sollen. Einen Vertrag mit dem Messprogramm Claridenfirn gibt es aber derzeit nicht.
Können Sie wenigstens von Ihrer Arbeitszeit etwas für die Messungen einsetzen oder studentische Hilfskräfte einbeziehen?
Ich habe mich zwar wiederholt an den Messungen beteiligt, jedoch eher aus persönlichem Interesse in meiner Freizeit, denn die Messkampagne ist nicht in meiner Verantwortung. Man kann aber auch nicht jedes Jahr neue Leute auf den Claridenfirn schicken. Die Messungen sind nicht trivial, es braucht Erfahrung und alpinistisches Knowhow, um sie durchzuführen. Es geht nicht darum, einfach die Werte von einem Messinstrument abzulesen und Zahlen aufzuschreiben. Der Aufwand ist bedeutend grösser.
Zur Person
Andreas Bauder ist seit 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Glaziologie an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW). Sein Forschungsschwerpunkt liegt bei der Veränderung der Gletscher im Schweizer Alpenraum. Er ist unter anderem auch am Schweizerischen Gletschermessnetz beteiligt.
Symposium zum 100. Messjahr
Aus Anlass des 100-Jahr Jubiläums der Claridenfirnmessungen organisieren die Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften über ihre Gesellschaft für Schnee, Eis und Permafrost eine Veranstaltung mit einem wissenschaftlichen Symposium an der ETH Zürich am Freitag 22. August 2014 und eine Exkursion zum Gletscher am Wochenende vom 23./24. August 2014.
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