«Ich finde es spannend, wenn ich widerlegt werde»

Nicola Spaldin, Professorin für Materialtheorie an der ETH Zürich, wird heute in Hamburg mit dem Körber-Preis ausgezeichnet. Im Interview erzählt die britische Wissenschaftlerin, was sie an den Materialwissenschaften fasziniert und warum sie ungeklärte Fragen liebt.

Vergrösserte Ansicht: Foto: Körber-Stiftung / Friedrun Reinhold
Nicola Spaldin mit dem ETH-Grossrechner Brutus, auf welchem sie ihre Modelle berechnet. (Bild: Körber-Stiftung / Friedrun Reinhold)

Wann hat Ihre Begeisterung für die Natur- und vor allem die Materialwissenschaften begonnen? Bereits in Ihrem Elternhaus?
Meine Eltern haben mich immer unterstützt, dass ich eine gute Ausbildung bekomme, aber mit meiner Studienwahl haben sie direkt nichts zu tun. Sie leiteten in England ein Wanderzentrum. Von ihnen habe ich meine Leidenschaft fürs Wandern geerbt. Die Naturwissenschaften habe ich erst in der Schule für mich entdeckt. Ich war schon immer gut in Mathematik. Anschliessend habe ich Naturwissenschaften studiert, meinen Doktor in Chemie erworben und eine Stelle als Postdoc in der Angewandten Physik angetreten. Damit war das, was ich tat, im Grunde nichts anderes als Materialwissenschaften. Daher war es nur natürlich, dass meine erste Anstellung eine Stelle als Professorin in den Materialwissenschaften war. Was mich fasziniert, ist die Interdisziplinarität – die Verbindung von Physik, Chemie und Materialeigenschaften.

Was ist Ihr innerer Antrieb bei der Arbeit?
Ich liebe den Forschungsprozess an sich. Insbesondere mag ich negative Befunde, und zwar nicht minder als positive. Ich finde es wirklich interessant, wenn sich eine These, der ich nachgehe, als falsch herausstellt.

Sie werden gerne widerlegt?
(lacht) Das mag ungewöhnlich klingen. Aber für mich bedeutet es, dass ich eine Fragestellung gefunden habe, auf die ich die Antwort noch nicht kenne und dass es hier etwas Neues zu erkunden gibt. Das ist für mich Vergnügen und Herausforderung zugleich. Ich will Dingen auf den Grund gehen und gebe nicht auf, bis ich einen Mechanismus vollständig verstanden habe.

Ist diese Beharrlichkeit eine Grundvoraussetzung für den Erfolg in der Wissenschaft?
Ja, das ist so. Der Grossteil der Forschung erfolgt vielmehr in kleinen Schritten als in grossartigen Heureka!-Momenten. Jeder Schritt bedeutet viel Arbeit. Um in der Forschung erfolgreich zu sein, braucht es ein profundes Hintergrundwissen, analytische Fähigkeiten und – vielleicht etwas vom Wichtigsten – Kreativität.

Sie gelten nicht nur als ausgezeichnete Wissenschaftlerin sondern auch als gute Dozentin. Was gefällt Ihnen an der Lehre?
Ich finde es spannend, einen Sachverhalt so zu erklären, dass ihn mein Gegenüber versteht. Auch erzielt man in der Lehre viel schneller Ergebnisse als in der Forschung. Das ist sehr befriedigend.

Warum haben Sie sich entschieden, 2011 von der University of California an die ETH zu wechseln?
Ehrlich gesagt, dachte ich nie, dass ich einen besseren Ort zum Arbeiten und Leben finden würde als Santa Barbara. Doch das Angebot der ETH hat mich überzeugt – vor allem die Arbeitsbedingungen waren unwiderstehlich. Anders als in den USA kann ich mich hier ganz meiner Forschung und Lehre widmen und muss nicht dauernd Finanzierungsanträge schreiben. Zudem wurde auch mein Mann als Professor am Institut für Automatik des Departements Informationstechnologie und Elektrotechnik angestellt, was uns sehr wichtig war.

Und jetzt, nachdem Sie ein paar Jahre an der ETH sind? Was haben Sie für Erfahrungen gemacht? Was gefällt Ihnen am besten?
Mir gefällt die alltägliche Forschung mit meiner Gruppe am besten. Ich habe fantastische Studierende, Postdocs und Mitarbeitende, weshalb wir eine lebhafte und stimulierende Forschungsumgebung haben, unterstützt von einer tollen Administration und Technik. Was ich nicht erwartet habe, ist die sehr positive Einstellung der Schweizer Gesellschaft zu Wissenschaft, Technik und auch zur Bildung. Dadurch entsteht eine positive Atmosphäre sowohl an der Universität – die Studierenden sind gut vorbereitet und enthusiastisch – als auch im Allgemeinen. Auch die Verfügbarkeit von Ressourcen, finanziellen, infrastrukturellen und personellen Mitteln ist ausergewöhnlich. Wenn ich eine gute Idee habe, findet sich immer ein Weg sie umzusetzen.

Hat es beruflich je eine Rolle gespielt, dass Sie eine Frau sind?
Schwer zu sagen, da ich natürlich nie als Mann gearbeitet habe. Aber ich habe ganz sicher Unterschiede in der Behandlung von Frauen und Männern beobachtet. Ich habe das Gefühl, dass sich junge Frauen eher für eine Karriere in der Wissenschaft entschliessen würden, wenn ihnen klar wäre, wie viele gesellschaftliche Probleme sich mit Hilfe der Wissenschaften oder Technologie lösen könnten. Diese Botschaft müssen wir noch viel stärker in die Öffentlichkeit tragen.

Ist es das, was Ihnen am besten an Ihrer Arbeit gefällt?
Mir gefällt, dass alles, was ich tue, eine potenzielle Anwendung hat. Das unterscheidet die Materialwissenschaften deutlich von so manch anderer Wissenschaft. Selbst unsere Grundlagenforschung ist normalerweise irgendwie nahe an der Realität.

Das gilt auch für die von Ihnen erforschten Multiferroika, für die Sie den Körber-Preis erhalten.
Ja. Multiferroika könnten in der Zukunft zum Beispiel beim Speichern und Verarbeiten von Daten in Computern eingesetzt werden. Wir brauchen sie jedoch auch in komplett anderen Anwendungen, so etwa um die Entstehung des Universums zu untersuchen. Wir haben aufgezeigt, dass strukturelle Transformationen in multiferroischen Kristallen Modellsysteme für die frühen Entwicklungsstufen des Universums sind. Das ist ausgesprochen spannend und momentan mein Lieblingsprojekt.

Hat die Wissenschaft Ihre Wahrnehmung verändert?
Ich erlebe die stoffliche Welt als sehr reich. So wie ein Musiker bei einer Symphonie jeden einzelnen Ton der Komposition wahrnimmt, schätze ich die atomare und Mikrostruktur in den uns umgebenden Materialien. Ich frage mich oft, warum sich ein bestimmtes Material so verhält, wie es sich verhält.

A propos Musik: Das ist in Ihrer Freizeit die andere Leidenschaft neben dem Wandern.
Stimmt. Ich spiele Klarinette, vor allem Kammermusik, und trete unter anderem mit dem Zürcher Orchester Accento Musicale auf.

Können Sie zum Abschluss des Gesprächs noch einen Wandertipp geben?
Mmh, es ist gibt so viele tolle Orte. Besonders gefällt mir das Tessin. Es vereint für mich das Beste der Schweiz mit dem guten Essen aus Italien.

Körber-Preis

Der mit 750'000 Euro dotierte externe Seite Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft ist einer der bedeutendsten Wissenschaftsauszeichnungen Europas. Allein in den letzten zehn Jahren befanden sich unter den Körber-Preisträgern fünf Forschende, die später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Der Preis wird jährlich von der Körber-Stiftung in Hamburg verliehen, dieses Jahr zum 31. Mal. Mit dem Preis zeichnet die Stiftung exzellente und innovative Forschungsansätze mit hohem Anwendungspotenzial aus. In die Schweiz wurde der renommierte Preis das letzte Mal 2007 vergeben. Damals erhielt ETH-Professor Peter Seeberger den Köber-Preis für seine bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der Zucker-Synthese.

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