Halbierte Kartoffelernte
Auf dem Weg von der Scholle bis zum Teller geht mehr als die Hälfte der Kartoffelernte verloren. Das zeigt eine neue Studie von Forscherinnen und Forschern von Agroscope und der ETH Zürich.
Das Thema Nahrungsmittelverschwendung (neudeutsch «Food Waste») ist derzeit in aller Munde. So sollen gemäss wissenschaftlichen Erhebungen in der Schweiz pro Kopf und Jahr 300 Kilogramm einwandfreie Lebensmittel im Abfall landen. Diese Zahl umfasst allerdings den gesamten Warenkorb, vom Jogurt über den trinkbaren Rest eines Weines bis hin zum zwei Tage alten Brot.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Forschungsanstalt Agroscope und der ETH Zürich haben nun ein Produkt aus diesem Warenkorb herausgepickt, das überproportional häufig weggeworfen wird: die Kartoffel.
Dazu hat der ETH-Doktorand Christian Willersinn aus der Gruppe von Michael Siegrist, Professor für Konsumverhalten, und Kollegen von Agroscope soeben eine neue Studie vorgelegt, welche die Verluste bei diesem Grundnahrungsmittels detailliert aufschlüsselt, und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungskette. «Mit dieser Studie wollen wir die Diskussion über Nahrungsmittelverschwendung anhand eines einzelnen Produkts vertiefen», sagt Erstautor Willersinn. Die Studie erschien in der Fachzeitschrift «Waste Management».
Bisher gab es zur Verschwendung bei Kartoffeln nur aus England genauere Zahlen. Dort enden rund zwei Drittel der Kartoffeln im Abfall. Diese Zahlen seien jedoch nicht mit Schweizer Verhältnissen gleichzusetzen, sagt Willersinn.
Für die Schweizer Studie untersuchten die Agroscope- und ETH-Forschenden die Verluste, die bei den Produzenten, Gross- und Detailhändlern, bei Verarbeitern und Konsumenten entstehen. Die Forschenden erhoben die Mengen sowohl für Speise- als auch für Verarbeitungskartoffeln, die zu Pommes Frites und Chips verarbeitet werden. Dazu verglichen sie die Verluste, die bei biologisch und konventionell erzeugten Kartoffeln beider Kategorien entstehen.
Um Aufschluss über die Verlustmengen bei Produzenten zu erhalten, verwendeten Willersinn und Kollegen Daten von über 220‘000 Gütebeurteilungen einzelner Knollen. Die Forscher befragten zudem Gross- und Detailhändler, um auch auf dieser Ebene möglichst genaue quantitative Angaben zu erhalten. Weiter erhoben sie mittels schriftlicher Befragung bei 2000 Haushalten Daten über die private Kartoffelverschwendung. 87 Personen führten zudem 30 Tage lang ein Tagebuch, in dem sie genau festhielten, wie hoch ihr Kartoffelkonsum ist und wie viel der ursprünglich angeschafften Menge, darunter auch Rüstabfälle, bei ihnen im Kehricht enden.
Jede zweite Knolle geht verloren
«Insgesamt sind die Verluste bei der Kartoffel auch in der Schweiz sehr hoch», sagt der ETH-Doktorand mit Blick auf das Resultat seiner Analysen: Vom Feld bis zu den Haushalten gehen bei konventionell erzeugten Speisekartoffeln 53 Prozent verloren, bei biologisch produzierten gar 55 Prozent. Bei Verarbeitungskartoffeln liegen die Zahlen tiefer: 41 Prozent der Bio-Knollen sind Ausschuss, bei den konventionell produzierten sind es 46 Prozent. Der höhere Anteil bei konventionell erzeugten Verarbeitungskartoffeln hängt mit deren Überproduktion zusammen, was bei Bio-Qualität kaum je vorkommt.
Der Ausschuss bei biologisch produzierten Speisekartoffeln ist deshalb grösser, weil diese den hohen Qualitätsansprüchen weniger gut genügen als konventionelle. «Der Konsument hat letztendlich die gleichen Erwartungen an Qualität und Aussehen bei Bio wie bei konventioneller Produktion.»
Bauern entsorgen einen Viertel
Verluste entstehen auf allen Stufen der Wertschöpfungskette: Bis zu einem Viertel der Ernte von Speisekartoffeln bleibt bereits bei Produzenten auf der Strecke. Weitere 12 bis 24 Prozent sortieren Grosshändler aus. Lediglich ein bis drei Prozent fallen bei Detailhändlern unter den Tisch und noch immer 15 Prozent in Haushalten.
Obwohl Privathaushalte vergleichsweise geringen Anteil an der Kartoffelvergeudung haben, ist ihr Beitrag laut Willersinn der schwerwiegendste: Bei Privaten landet ein Grossteil der nicht verwendeten Kartoffeln im Kehrichtsack oder im Kompost. Produzenten, Händler und Verarbeiter hingegen speisen den Ausschuss zu einem überwiegenden Anteil in die Tierfütterung oder zu kleineren Teilen in Biogasanlagen ein.
Qualitätsansprüche und -vorschriften
«Schuld» an den Verlusten sind gemäss Willersinn in erster Linie die hohen Qualitätsansprüche der Konsumenten, vor allem bei den Speisekartoffeln. Auf dieses Konto gehen bei Speisekartoffeln aus konventioneller Produktion zwei Drittel der Verluste. Bei biologischen sind es sogar drei Viertel.
Auch der Schutz der Verbrauchergesundheit sorgt für Abfälle: Produzenten sondern jede dritte Kartoffel nach der Ernte aus, weil sie faul oder grün ist und deshalb gesundheitsschädlich wäre. Viele Knollen sind auch von Drahtwürmern, also den Larven von Schnellkäfern, zerfressen, wären jedoch noch essbar. «Ist eine Kartoffel voller Frasslöcher den Konsumenten zumutbar?», fragt deshalb Willersinn rhetorisch. Auch unförmige oder deformierte Erdäpfel wären geniessbar, werden aber aus ästhetischen Gründen genauso wie wurmstichige Knollen an Tiere verfüttert.
Neue Sorten, anderes Verhalten
Um den Ausschuss bei Kartoffeln zu vermindern schlägt der Forscher deshalb vor allem Massnahmen auf Produzentenseite vor; etwa geeignete Kultivierungsmethoden wie Fruchtfolge, um Schädlingsbefall zu minimieren, Pflanzenschutz gegen Drahtwürmer und neue Züchtungen von robusteren Knollen. «Diese Massnahmen können die Qualität verbessern, sodass weniger Ausschuss entsteht», ist er überzeugt.
Um den Ausschussberg zu verkleinern, müssten auch die Qualitätsanforderungen überarbeitet werden, damit unförmige oder verschorfte Kartoffeln in die Regale gelangen könnten. Das könnte den Verlust bei konventionellen Speisekartoffeln um vier Prozent, bei Bio-Speisekartoffeln um drei Prozent verringern.
Gross- und Detailhändler seien allerdings gegenüber verschorften Kartoffeln kritisch eingestellt, da sich Schorf auf gesunde Knollen überträgt. «Der Ausschuss würde dann anstatt bei Produzenten und Händlern einfach bei den Endverbrauchern entstehen, weil diese andere Qualitätsvorstellungen haben», ist Willersinn überzeugt. Die Ökobilanz sei am schlechtesten, wenn Konsumenten Kartoffeln in den Kehricht geben. «Die Verluste am Ende der Kette sind am schlimmsten, weil dann am meisten Energie im Produkt steckt. Deshalb macht es am meisten Sinn, die Haushaltsverluste zu minimieren», betont Willersinn. Eine entsprechende Studie sei derzeit am Laufen.
Konsumenten in die Pflicht nehmen
Gerade die Konsumenten sieht der ETH-Doktorand und Agroscope-Mitarbeiter in der Pflicht. Sie sollten ihre Vorlieben und ihr Kauf- und Essverhalten überdenken. «Verhaltensänderungen sind allerdings nur sehr schwer zu erreichen», betont er. Die Haushaltsbefragung habe aufgezeigt, dass ältere Leute geringere Mengen wegwerfen als jüngere. Über die Gründe dafür kann Willersinn nur spekulieren. Er kann sich vorstellen, dass Ältere wissen, wie man Kartoffeln lagern muss, junge Leute hingegen da Lücken haben.
Die vorliegende Studie wurde im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts NFP69 «Gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion» des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) durchgeführt. Sie ist die umfangreichste, die in der Schweiz je zum Thema Food Waste eines einzelnen Produkts erstellt wurde.
Literaturhinweis
Willersinn C, Mack G, Mouron P, Keiser A, Siegrist M. Quantity and quality of food losses along the Swiss potato supply chain: Stepwise investigation and the influence of quality standards on losses. Waste Management. Available online 2 September 2015. DOI: externe Seite 10.1016/j.wasman.2015.08.033