Vorsicht vor Voreingenommenheit

Wissenschaft ist nie wirklich neutral und objektiv. Als Forschende sind wir anfällig für unbewusst verzerrte Wahrnehmung, auch wenn wir Objektivität suchen, meint Jaboury Ghazoul.

Jaboury Ghazoul

«Ein einziger gigantischer Irrtum»: So beurteilte Charles Darwin seine Publikation zu den «Parallel-Strassen» von Glen Roy aus dem Jahr 1839. Drei perfekt horizontal ausgerichtete Terrassen erstrecken sich über die Abhänge des Glen Roy-Tals im Nordwesten Schottlands. Für die Geologen der damaligen Zeit war die Deutung dieses Phänomens eine knifflige Aufgabe. Charles Darwin, soeben zurück von seiner Weltreise auf der HMS Beagle, war fasziniert von Charles Lyells Aktualismus-Theorie der Geologie, wonach Landformen wie etwa Berge aus sukzessiver Anhebung entstehen.

Parallel-Strassen von Glen Roy
Die Parallel-Strassen von Glen Roy, Abdruck von Charles Darwins Paper aus dem Jahr 1839. (Bild: Charles Darwin; Philosophical Transactions of the Royal Society of London1)

In Chile hatte Darwin Strände gesehen, die durch Erdbeben angehoben wurden. Erpicht darauf, sein Renommee unter Beweis zu stellen, machte er sich daran, Lyells Theorie zu bestätigen und zu zeigen, dass die Parallel-Strassen von Glen Roy marine Terrassen sind, die sich in jüngerer geologischer Vergangenheit aus dem Meer erhoben haben.

Von Wunsch und Forschung

Darwin suchte nach Muscheln und Krebsen, um die marinen Ursprünge der Terrassen zu belegen. Während der achttägigen Feldarbeit fand er keinen einzigen Hinweis. Er tat dies damit ab, dass sich die Muscheln und Krebse nicht erhalten hätten. So erklärte er sich auch, dass es in den umliegenden Tälern keine vergleichbaren Terrassen gibt. Trotzdem schrieb Darwin an Lyell: «Ich bin fest überzeugt davon,… dass die Ablagerung Meeresstrände sind – obwohl ich keine Spuren von Muscheln finden konnte, & ich denke, ich kann die meisten, wenn nicht sogar sämtliche Ungereimtheiten auflösen» (9. August 1838)1.

Es stellte sich heraus, dass die «Meeresstrände» nichts dergleichen waren. Kurz nachdem Darwin sein Glen-Roy-Paper publiziert hatte, erklärte Louis Agassiz anhand seiner Eiszeit-Theorie die «Strassen» als wellenförmige, von aufgestauten Gletscherseen gebildete Platten. Wie konnte Darwin nur so falsch liegen? Sein scharfer analytischer Geist war von einem Wunsch getäuscht.

Beobachtetes in die Theorie zwängen

Observations on the Parallel Roads of Glen Roy
Die Parallel-Strassen von Glen Roy. (Bild1)

Wissenschaft ist nie wirklich objektiv. Wir hängen an Theorien und deuten Belege durch diese Brille. Neue Ideen verlangen nach Bestätigung, und bald stützen jede Menge Studien die junge Theorie. Autoren solcher Studien sichern sich Anerkennung, und Zeitschriften sichern sich Zitierungen. Im Anfangsstadium einer Theorie ist es schwierig, gegenteilige Studien zu publizieren. Das führt zu einem «Publikationsbias».

Das hat in keiner Weise mit bewusstem wissenschaftlichem Betrug zu tun. Vielmehr messen Forscher Erkenntnissen, die ihre Erwartungen bestätigen, mehr Gewicht bei – wenn auch unbewusst. Stephen Jay Gould nannte dies «Daten in eine Theorie hineinzwängen» (shoehorning data into theory). Ist eine Theorie einmal etabliert, sind die innovativsten Studien jedoch jene, welche sie herausfordern. Mit der Zeit wird es akzeptabler, widersprechende Resultate zu publizieren, und die Theorie wird dann angepasst oder verworfen. Karl Poppers Insistieren auf der Widerlegung ist solange vergessen, bis die Widerlegung ihrerseits neu und innovativ wird.

Naturschutz und Bienen als Beispiel

In meinem Forschungsgebiet, der Pflanzenökologie, spielt das keine so grosse Rolle. Ernster wird es, wenn Schlüsse relevant für die Praxis werden und etwa das Ressourcenmanagement oder die Umweltpolitik beeinflussen. In der angewandten Forschung ist der Druck höher, Belege zu liefern, und man erreicht mehr, wenn man solche tatsächlich vorweisen kann. Das wiederum begünstigt eine gewisse Voreingenommenheit. Ein solcher «Bias» könnte widersprüchliche Schlussfolgerungen erklären, etwa zur Toxizität von Pestiziden für Bienen, je nachdem, ob sie von Unternehmen oder Umweltorganisationen stammen.

«Unbewusst nehmen wir vieles verzerrt wahr, auch wenn wir nach Objektivität streben.» Jaboury Ghazoul

Das führt uns zu wertebestimmten Wissenschaften (value-laden sciences) wie dem Naturschutz. Naturschützer verfolgen ein Ziel. Unsere Wissenschaft liefert die Basis für Massnahmen, die sich am Wert einer schutzwürdigen Biodiversität orientieren. Die Naturschutz-Wissenschaft will diesen Wert bestätigen, indem sie die Leistungen der Biodiversität aufzeigt. Aber wie glaubwürdig können Forderungen sein, wenn sie einem standardisierten Naturschutzziel dienen? Wir sind keine gefühllosen Beobachter. Wenn wir die Plausibilität von Studien der Agrarindustrie hinterfragen, sollten wir dann nicht auch die Objektivität bekennender Umweltschützer ebenso streng prüfen?

Komplexität akzeptieren

Es ist allgemein anerkannt, dass wir die schrumpfenden Bienenbestände retten müssen, weil davon die globale Lebensmittelproduktion abhängt – denn ohne die unverzichtbaren Bestäuber produzieren Kulturpflanzen weniger Früchte. Nur: die Ernteerträge nehmen global zu. Das Problem ist eindeutig komplexer, als es auf den ersten Blick scheint.

Vielleicht werden Studien, die zeigen, dass Ernteerträge trotz weniger Bestäubern nicht zurückgehen, einfach weniger häufig publiziert. Oder andere Faktoren könnten die Ernteerträge entscheidend beeinflussen. Vielleicht sinken die Ernteerträge nur in bestimmten Gebieten und werden anderswo durch eine höhere Produktion kompensiert. Was auch immer die Gründe sein mögen, die «Bestäubungskrise» hält sich in Medien und Politik als drängendes Umweltproblem – obwohl es zumindest gewisse gegenteilige Hinweise darauf gibt. Wird dieses Thema überbewertet, und spielt der «Bias» eine Rolle? Ich weiss es nicht. Aber es wäre naiv, diese Möglichkeit auszuschliessen.

Glaubwürdig bleiben

Die grössere Sorge ist, dass ein unbewusster Bias bei der Präsentation von Belegen die Glaubwürdigkeit der Naturschutzwissenschaft untergräbt. Das ist kritisch, wenn wir jene zu überzeugen versuchen, die unsere Werte nicht teilen – nämlich davon, dass Naturschutz nötig sei. Unser Wunsch, die Fülle des Lebens zu erhalten, kann uns unbeabsichtigt dazu verleiten, Daten auf eine ganz bestimmte Weise zu erheben, zu interpretieren und darzustellen. Als Naturschützer und Wissenschaftler sollten wir uns immer wieder vor Augen halten, dass wir vieles verzerrt wahrnehmen, auch wenn wir nach Objektivität streben.

Darwin kann dafür, wie so oft, ein Vorbild sein. Dass er sich mit seiner Glen-Roy-Theorie getäuscht hatte, gestand er widerwillig, aber unumwunden ein: «Ich gebe auf & verabscheue Glen Roy & alles, was dazugehört … Ich glaube, jedes Wort in meinem Glen-Roy-Paper war schlicht falsch» (14. Oktober 1862).

Gelegentlich sollten auch wir das Gleiche tun – es würde uns zu besseren Wissenschaftlern machen.

Referenz

1 Royal Society of London: externe SeiteObservations on the Parallel Roads of Glen Roy (Charles Darwin, 1839)

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