Im blinden Fleck der Architektur
Am Samstag öffnet die 16. internationale Architekturbiennale in Venedig ihre Tore. Mehrere an der ETH tätige Architekten sind mit Beiträgen präsent, darunter vier junge Nachwuchswissenschaftler, die den Schweizer Pavillon gestalten. Alessandro Bosshard und Matthew van der Ploeg geben Einblick in ihr Projekt «Svizzera 240: House Tour».
Kurz nach der Veröffentlichung dieses Artikels erhielt der Schweizer Pavillon zum ersten Mal den Goldenen Löwen. Weitere Informationen finden Sie im Artikel «Biennale 2018: Beitrag der ETH gewinnt goldenen Löwen».
Was erwartet die Besucher im Schweizer Pavillon?
Alessandro Bosshard: Ein Rundgang durch unmöblierte Räume. Die Umgebung kommt den Besuchern einerseits vertraut vor, da sie an eine klassische Wohnung erinnert. Gleichzeitig verwirrt sie aber auch, denn wir haben die Dimensionen vom herkömmlichen Massstab gelöst. Da gibt es beispielsweise eine Küche, die zu gross und Türen, die zu klein oder verzogen sind. Indem wir das Ausgangsmaterial verfremden, wollen wir die Wahrnehmung auf das, was uns umgibt, schärfen.
Matthew van der Ploeg: Die Ansicht des Innenraums, in dem wir wohnen, ist sozusagen ein blinder Fleck in der Architektur. Denn Architekten orientieren sich primär an Plänen, Bewohner hingegen denken schnell an die Möblierung. Wir finden es spannend, einmal den Raum an sich in den Fokus zu stellen.
Das Motto der diesjährigen Architekturbiennale heisst «Freespace». Wie interpretiert Ihr das, und inwiefern knüpft euer Projekt an dieses Thema an?
Van der Ploeg: «Freespace» hat für uns viel mit Grosszügigkeit zu tun. In unserer Haus-Tour setzen wir es auf mehreren Ebenen um: Zum einen lassen wir den Raum sprichwörtlich frei, damit man ihn anders und intensiver erlebt. Zum anderen haben wir uns den Freiraum genommen, Wohnen einmal aus einer anderen als der für uns gewohnten Architekten-Perspektive zu betrachten Also nicht mit Plänen und Dimensionen zu arbeiten, sondern vom Erscheinungsbild auszugehen. Dazu haben wir Bilder von unmöblierten Wohnungen auf Webseiten von Schweizer Architekturbüros studiert.
Was wollt Ihr mit eurem Beitrag bewirken?
Bosshard: Der zeitgenössische Wohnungsbau ist unserer Meinung nach stark standardisiert: Weisse Gipswände, Sockelleisten, weitgehend normierte Fenster und Türfallen. Durch ihre Allgegenwärtigkeit sind diese Elemente quasi selbstverständlich geworden. Das wollen wir bewusstmachen.
Van der Ploeg: Wir möchten die Leute – Architekten wie Laien – dazu anregen, über unsere Art des Wohnens nachzudenken. Unsere Installation dient als eine Art Spiegel. Sie tritt mit den Besuchern in einen Dialog und löst hoffentlich Diskussionen aus, auch kritische.
Ist euer Thema typisch schweizerisch?
Bosshard: Die Schweiz ist eine Nation von Mietern und gehört in Europa zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Personen, die in Mietwohnungen leben. Viele bewohnen im Laufe ihres Lebens mehrere Wohnungen. Wohnen ist bei uns ein Dauerthema. Die Zahl 240 in unserem Titel bezieht sich übrigens auf die durchschnittliche Höhe der Wand in Schweizer Wohnungen in Zentimetern.
Mit eurem Konzept habt Ihr euch im Wettbewerb der Pro Helvetia gegen mehr als 80 Mitbewerber durchgesetzt. Was bedeutet dieser Auftrag für euch?
Bosshard: Wir werden sehen, was es wirklich bedeutet! Aber es ist definitiv eine grossartige Erfahrung. Wir waren beide schon mehrmals als Besucher an der Biennale, und natürlich träumt jeder Architekt davon, dort ausstellen zu dürfen. Dass Pro Helvetia dieses Jahr erstmals einen offenen Wettbewerb ausgeschrieben hat, war für junge Architekten wie uns eine riesige Chance.
Van der Ploeg: Unser Entscheid, hier mitzumachen, war eher spontan. Umso überraschter waren wir, dass wir es mit unserer zweiseitigen Konzeptskizze in die zweite Runde geschafft haben. In dieser waren nur noch fünf Teams im Rennen. Da haben wir alles gegeben, um ein überzeugendes Projekt auszuarbeiten.
Welche war für euch die grösste Herausforderung?
Van der Ploeg: Die tickende Zeit. Das vergangene Jahr war ein einziger Wettlauf gegen die Uhr. Aber wir haben uns sehr effizient organisiert und gut abgesprochen. Da wir zum ersten Mal ein Projekt dieses Umfangs realisierten, machten wir eine extrem steile Lernkurve.
Bosshard: Für mich bestand die grösste Herausforderung darin, alle Fäden zusammenzuhalten. Aber ich denke, es ist uns wirklich gut gelungen, auch dank der Unterstützung von unserem Professor Alex Lehnerer, der das Team immer ermutigt hat, und vom ganzen Departement. Das war wirklich grossartig.
Inside ‘Svizzera 240: House tour ’ (© Bilder 1-3: Christian Beutler / Keystone ; Bild 4: Wilson Wootton)
Weitere ETH-Projekte an der Biennale Venedig 2018
Nicht nur im Schweizer, sondern auch im Japanischen Länderpavillon steckt viel ETH: Die Ausstellung externe Seite «Architectural ethnography» wird von Momoyo Kaijima, Professorin für Architectural Behaviorology, und Laurent Stalder, Professor für Architekturtheorie, kuratiert. Zu den Ausstellern gehört unter anderem Tom Emerson, Professor für Architektur und Konstruktion.
Sacha Menz, Professor für Architektur und Bauprozesse, stellt in der Ausstellung «Time Space Existence», die zum Rahmenprogramm der Biennale gehört, aus. In seinem Projekt «Dense and Green Building Typologies: Architecture as Urban Ecosystem» untersucht er gemeinsam mit Professor Thomas Schröpfer von der Singapore University of Technology and Design, wie sich der Stadtstaat weiterentwickeln kann, ohne dass die Lebensqualität darunter leidet.
Weitere ETH-Professoren zeigen Projekte ihrer Büros in der Hauptausstellung und im Rahmenprogramm. Zur Übersicht