Ein Planer mit Herz für die Schweizer Demokratie
Als Raumplaner hat sich Bernd Scholl ein Berufsleben lang mit der Zukunft von Räumen befasst. Seine Suche nach umfassenden Lösungen für Verkehr, Siedlung und Landschaft hat ihn zu einem überzeugten Anhänger der direkten Schweizer Demokratie gemacht. Porträt eines passionierten Raumentwicklers.
Wenn Bernd Scholl von seinem Schreibtisch aufblickt, trifft sein Blick ein grosses Bild. Dieses hängt in seinem Büro auf dem Campus Hönggerberg und zeigt die östlichen Bezirke Wiens. Aus der Masse der Gebäude stechen die weiträumigen und linienförmigen Infrastrukturen heraus: Brücken, Bahnhöfe und Autobahnen. Unter ihnen der sogenannte Gürtel, der zu den meistbefahrenen innerstädtischen Strassen Europas zählt. Am stärksten zieht jedoch die Donau den Blick auf sich.
Für den jungen Raumplaner Bernd Scholl war Wien eine wegweisende Erfahrung. Das war zu Beginn der 1980er-Jahre und Scholl war Assistent an der ETH Zürich. Damals bauten die Wiener die «Neue Donau», um die Stadt besser vor Überschwemmungen zu schützen. Zugleich richteten sie in dem 21 Kilometer langen Flussstreifen mit der Donauinsel ein Freizeit- und Erholungsgebiet ein, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln direkt erreichbar ist, und das den Aussenbezirken der Stadt bis heute zugutekommt.
«Das war für mich ein Schlüsselerlebnis, dass man aus einem Hochwasserschutzprojekt heraus ein zentrales Naherholungsgebiet schaffen und zur Verkehrsberuhigung beitragen konnte», erinnert sich der Professor für Raumentwicklung, der am 23. Mai seine Abschiedsvorlesung hält. In Wien wurde ihm bewusst, dass man Aufgaben der Infrastruktur- und Stadtentwicklung ganzheitlich im grösseren, räumlichen Zusammenhang verstehen und lösen müsse.
Eine Vorstellung der Zukunft
Die «vorausschauende Koordination der raumwirksamen Tätigkeiten» sei die typische Aufgabe der Raumplanung, die sie von anderen Disziplinen und Berufen unterscheide. Dazu gehört, für einen ausgewählten Raum Perspektiven der zukünftigen räumlichen Entwicklung zu erarbeiten und diese mit Politik und Bevölkerung zu diskutieren: «Schliesslich befassen wir uns mit der Zukunft eines Lebensraumes und das betrifft die Menschen, die dort wohnen.»
Kommunikations- und Verhandlungsfähigkeiten seien für Raumplaner wichtige Fähigkeiten: «In der Raumplanung gibt es kaum je ein Thema, das nicht konfliktträchtig wäre», sagt Scholl, «weil verschiedene Gruppierungen unterschiedliche Interessen und Ansprüche haben, wie sie die nicht vermehrbare Ressource Boden nutzen wollen.» Er erwartet, dass die Diskussionen um die Raumentwicklung in Zukunft noch anspruchsvoller werden, weil die digitalen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und der Vernetzung die Anforderungen an die Kommunikation erhöhen.
Anhänger der direkten Demokratie
Auch deswegen sagt Scholl: «Ich bin ein grosser Anhänger der direkten Demokratie, weil sie Planer und Entscheidungsträger zwingt, ihre Argumente möglichst offen auf den Tisch zu bringen». Selbst in den repräsentativen Demokratien wie beispielsweise Deutschland bestehe diese Notwendigkeit nicht im selben Mass: «Mich als Raumplaner spornt es an, komplexe, fachliche Zusammenhänge in die Alltagssprache zu übersetzen, denn das heisst, diese Zusammenhänge wirklich zu klären.»
Seine Studien- und Assistenzzeit fiel in die «Gründerjahre der modernen Raumplanung» in der Schweiz. Die ETH Zürich und Scholls Doktorvater Jakob Maurer schufen in den 1970er-Jahren massgebliche Grundlagen der heutigen Raum- und Richtplanung. Mit den Richtplänen stimmen die Kantone die grossen Infrastruktur- und Bauvorhaben langfristig aufeinander ab.
Noch heute findet Scholl, dass die Schweiz ein sehr modernes Raumplanungsgesetz habe, wenngleich es im Vollzug einige Fragen offenlasse. «Immerhin hat die Schweizer Bevölkerung 2013 mit der letzten Revision des Raumplanungsgesetzes akzeptiert, dass sich Siedlungen nach innen entwickeln sollen. Das gibt es in keinem anderen Land in Europa.» Just diese Frage, wie es gelingen kann, die Ausweitung der Siedlungsflächen in die Landschaft zu begrenzen, trieb Scholl in die Wissenschaft: «Ich habe mir immer vorgestellt, dass den Gemeinden, die ihre Siedlungen nach innen entwickeln wollen, eine Übersicht nützen würde, wie viele Flächenreserven sie im Siedlungsgebiet noch haben.»
Um eine sachliche Grundlage für das Siedlungsflächenmanagement zu schaffen, begann Scholls Gruppe 2006 eine Kooperation mit Kantonen und Gemeinden. «Heute ist diese Methode, die wir «Raum+» nennen, und mit der man Siedlungsflächenreserven erheben kann, in zwölf Kantonen und über 300 Gemeinden eingeführt. Sie alle erhalten nun ihre Übersicht auf Knopfdruck.»
In den letzten 20 Jahren gewannen informelle Planungsverfahren, die die formellen Verfahren wie die Richtplanung und die Zonenplanung ergänzten, an Bedeutung, sagt Scholl. Ein Beispiel, das er selber weiterentwickelte, sind Testplanungen. Mit dieser Methode untersucht er die Entwicklungsmöglichkeiten eines Raums und erarbeitet mit Planungsteams, Experten verschiedener Disziplinen und Politikern eine Zielvorstellung.
Testplanungen für Dübendorf und Attisholz
Solche Testplanungen führte Scholl für den Flugplatz Dübendorf durch und für das Gebiet Attisholz, der grössten Schweizer Industriebrache in den Solothurner Gemeinden Riedholz und Luterbach. Überrascht hat ihn, wie schnell die Testplanungen dort zu Ergebnissen führten: In Attisholz richtete ein amerikanisches Biotech-Unternehmen seinen wichtigsten Produktionsstandort in Europa ein, nach Dübendorf kommt der Innovationspark.
«Ohne die Testplanung als Grundlage wäre das nicht so schnell gegangen», sagt Scholl. Auch im Limmattal, einem Raum von nationaler Bedeutung, gab er entscheidende Impulse, um die grenzüberschreitende Planung in Gang zu setzen: «Da haben wir eine Ideenkonkurrenz lanciert, aus dem eine gemeinsame Entwicklungsperspektive, die ‹Regionale 2025›, hervorging.»
Als Professor in Zürich und davor an der Universität Karlsruhe leitete Scholl Grossplanungen in Frankfurt, Mailand, Stuttgart, Budapest oder die integrierte Verkehrs- und Raumentwicklung für den Transportkorridor zwischen Rotterdam und Genua einschliesslich der Schweizer Alpen-Transversale NEAT. Nun, da er emeritiert wird, möchte er diese Räume wandernd erkunden, um zu sehen, «was aus der Planung geworden ist».