Lernen im Stadtlabor Singapur
Studierende aus zwölf Departementen reisten im Juni zum ersten «ETH Singapur Monat», einem Reallabor mehr als 10'000 Kilometer vom Campus Zürich entfernt. Das Ziel: Vorschläge zur Lösung komplexer Probleme der Urbanisierung im Stadtstaat zu entwickeln.
Einen interdisziplinären Rahmen, um komplexe Herausforderungen der urbanen Gesellschaft zu analysieren und Lösungsansätze zu entwickeln – das bietet die neuartige Lehrveranstaltung «ETH Singapur Monat» Masterstudierenden der ETH und ihrer Partneruniversitäten in Singapur. Teilnehmende der ersten Ausgabe waren eine Gruppe von 48 Studierenden von sieben Universitäten, darunter neben der ETH das Massachusetts Institute of Technology (MIT), die Uni Cambridge und die Singapurer Hochschulen Nanyang Technological University und National University. Im Vordergrund standen vielschichtige Probleme, die sich aus globalen Urbanisierungsprozessen ergeben. Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung dienten als Richtschnur, um Lösungsansätze zu finden.
«Aufgabe der Studierenden aus verschiedenen Disziplinen war es, am Ende des Kurses eine Ausstellung und eine Präsentation vorzuweisen. Die zentrale Herausforderung war die Gestaltung des Prozesses der Zielerreichung», erklärt Marc Angélil, Professor für Architektur und Design, der den Workshop konzipiert und moderiert hat.
Prototypen für das urbane Miteinander
«Dieses Programm ist vom gleichen Spirit getragen wie das Singapore-ETH Centre, wo wir disziplinäre und kulturelle Barrieren abbauen und sich ergänzende Kompetenzen und Perspektiven nutzen, um unsere künftige Lebenswelt nachhaltiger, lebenswerter und widerstandsfähiger zu machen», sagt Gerhard Schmitt, Direktor des Singapore-ETH Centre.
Singapur halten Gerhard Schmitt und Marc Angélil für einen einzigartigen Rahmen, um Themen der urbanen Gesellschaft an sich zu erforschen. «Der Stadtstaat reagiert rasch und flexibel auf Herausforderungen und kann auf einer stabilen Governance aufbauen, sowie auf der Offenheit der Behörden für Forschung und auf der Praxis, über Prototypen und deren Skalierung zu tragfähigen Lösungen zu finden», sagt Schmitt. Durch den Austausch mit Regierungsstellen, Unternehmen, Forschenden und nicht zuletzt durch die persönliche Erfahrung der Stadt gewannen die Studierenden schnell Einblicke in die Situation vor Ort.
Resultate sollen anwendungsnah sein
Während ihres Aufenthalts entwickelten die Studierenden Ansätze, um Nachhaltigkeitsziele wie sauberes Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen, den Abbau von Ungleichheit sowie Verantwortungsbewusstsein in Konsum und Produktion voranzubringen. Dabei nahmen die Teilnehmenden unterschiedliche Regierungsmodelle kritisch unter die Lupe, aber auch ganz Grundsätzliches wie die landläufigen Definitionen von Gleichheit, Grundrechten oder Grenzen: grosse bis kaum lösbare Knacknüsse selbst für erfahrene Politiker; eine "mission impossible" für Studierende. Doch entscheidend war, was sie für sich mitnahmen. «Die wertvollste Lektion, und gleichzeitig die grösste Herausforderung, war das Arbeiten im interdisziplinären Umfeld», findet Martin Stalder vom Department Chemie und Angewandte Biowissenschaften.
Raus aus der Komfortzone
Zum Abschluss wurden Vorschläge präsentiert, die von pragmatisch über mutig bis zu radikal reichten. So etwa künstliche Wolken, um Regen als Mittel für einen gerechteren Zugang zu Wasser zu erzeugen, die «United Oceans», eine UN der Meere, um die Bemühungen für sauberere Ozeane besser zu koordiniere, oder die Einführung eines staatlich verwalteten, personalisierten CO2-Kreditsystems zur Förderung der Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum. «Jahre nach Abschluss meines Studiums werde ich mich vielleicht nicht an alles erinnern, was ich hier gelernt habe. Aber ich werde mich definitiv an diese unschätzbare Erfahrung erinnern, die mir die ETH ermöglicht hat», so Michail Karakikes vom Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik.
«Bei diesem neuen Angebot geht es letztlich nicht darum, ob die Vorschläge morgen umgesetzt werden. Vielmehr soll es eine wertvolle Lernerfahrung für die Führungskräfte von morgen sein», sagt ETH-Rektorin Sarah Springman. «Die ETH will Bildungsinhalte anbieten, die unsere Studierenden aus ihrer Komfortzone herauslocken, ihre Annahmen hinterfragen, ihre Vorstellungskraft erweitern und sie ermutigen, das scheinbar Unmögliche anzugehen.»