Auf den Spuren des Schweizer Humboldts
Der Argentinier Tomás Bartoletti will Geschichte aus einer globalen Perspektive erzählen. Seit Sommer 2019 tut er dies an der ETH Zürich, indem er die Geschichte des Schweizer Naturalisten Johann Jakob von Tschudi aufarbeitet. Der Forscher erhofft sich dabei neue Erkenntnisse zur postkolonialen Vergangenheit der Schweiz und zur Geschichte Lateinamerikas.
Am Arbeitsplatz von Tomás Bartoletti wird offensichtlich, dass man es weder mit einem Ingenieur noch einem klassischen Geisteswissenschaftler zu tun hat: Gegenüber seines Arbeitstisches mit Laptop und zwei grossen Flachbildschirmen steht ein Regal mit Büchern zur Geschichte der Indigenen in Lateinamerika, zur Kolonialisierung Afrikas, zu Museen und ihren Sammlungen und Schweizer Jägern in Graubünden. Schriften in Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Deutsch.
Inmitten dieser sprachlichen und geistigen Vielfalt eine gedrungene Steinfigur mit grossen Augen, umgeben von Spielzeuggeldnoten, Bonbons, Zigaretten und Büchern eines Schweizer Forschungsreisenden - Devotionalien für eine Reproduktion des Ekeko, den Gott des Glücks und der Fruchtbarkeit des bolivianischen Andenvolks der Aymara. Die Gottheit soll Bartolettis Forschungsvorhaben während seines zweijährigen Postdoktorats an der ETH Zürich Glück bescheren. Zugleich steht sie selbst im Interesse seiner Studien.
Deutsch pauken in Buenos Aires
Tomás Bartolettis Weg zur Philologie – und damit auch nach Zürich – beginnt in den 80er-Jahren in einem ruhigen Aussenviertel von Buenos Aires. Dort wächst er in einer Mittelstandsfamilie auf, deren Stammbaum bis nach Hamburg und ins Tessin reicht. Der Zufall will es, dass in unmittelbarer Nähe seines Elternhauses deutsche Immigranten eine Schule mit Kindertagesstätte gründen. Bartoletti, erst fünf Jahre alt, beginnt, deutsche Artikel und Verben zu büffeln.
Die fremde Sprache macht ihm Spass; Mehrsprachigkeit wird bei ihm rasch zum Normalfall. Mit 16 Jahren reist er im Rahmen eines Austauschs erstmals nach Nürnberg. Damit war die Beziehung zum deutschen Sprachraum etabliert und sein Interesse an der Fremde und ihrer Sprachen endgültig geweckt. Ein Studium in klassischer Philologie, Lateinamerikanischer Literatur und Linguistik war naheliegend. Später kamen noch die Wissenschafts- und Technikgeschichte hinzu.
«Mir lag von Beginn an viel daran, disziplinäre Grenzen zu überwinden», sagt Bartoletti in seinem Büro am Institut für Geschichte, wo er in der Gruppe von Harald Fischer-Tiné an der Professur für Geschichte der modernen Welt forscht. «Ich interessiere mich genauso für griechische Mythologie wie für Ethnologie oder Paläontologie und Umweltgeschichte.» Sein Studium würzte er mit Aufenthalten in Deutschland und seine Doktorarbeit schrieb er grösstenteils an der Humboldt-Universität in Berlin sowie an der Universität Erfurt. Bartolettis Thema: Die griechische Wahrsagung aus der Perspektive indigener Andenvölker.
Mit dem Forschungsprojekt versuchte der Forscher, die Kosmopraxis und Mystik von indigenen Kulturen Lateinamerikas für die Deutung von griechischen Orakeln im klassischen Athen fruchtbar zu machen. Der Doktorand wagte damit eine Weltanschauung, in der die Anden-Kultur auf einer Ebene mit der griechischen Hochkultur existiert. Natürlich habe er damit auch Altertumswissenschaften untergraben, sagt er schelmisch und fragt: «Weshalb muss man an einer lateinamerikanischen Universität fürs philologische Studium bis heute Altgriechisch und Latein lernen? Weshalb nicht Quechua, Aymara oder eine andere Sprache der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas?»
Ein «alpiner Jäger» in Peru
Während seiner Doktorarbeit in Berlin stiess Bartoletti zufällig auf Schriften des Naturforschers, Forschungsreisenden, Zoologen, Linguisten und Diplomaten Johann Jakob von Tschudi. Bartoletti nennt ihn heute gar den «Schweizer Humboldt». Der Glarner aus einer reichen, bildungsbürgerlichen Patrizierfamilie unternahm Mitte 19. Jahrhundert zahlreiche mehrjährige Forschungsreisen durch Peru, Brasilien und Bolivien. Er veröffentlichte Bücher über die Fauna, archäologische Studien zu den Inkas, sieben Reisetagebücher, schrieb eine Grammatik der Quechua-Sprache und die erste Übersetzung der indigenen Sprache ins Deutsche. Zudem gehörte er zu den ersten, die ein Kokainextrakt nach Europa brachten – ein Import, der später für die Pharmaindustrie eine ausserordentliche Bedeutung haben sollte.
Bartoletti konnte zu Beginn nicht glauben, dass ausser einer unkritischen Biographie aus den 50er-Jahren noch nichts zu von Tschudi publiziert worden war. «Es scheint als hätten sich bislang nur wenige Historiker in der Schweiz für ihn interessiert.» Bartoletti arbeitet deshalb an einer globalen Biographie zu von Tschudi, in welcher er ihn als einen Mann seiner Zeit verstehen und im globalen historischen Kontext einbetten will. Damit trägt er zu einer «Global History» bei, einer Geschichtsschreibung, die versucht, Narrative aus verschiedenen Weltregionen und Kulturen zu verbinden und die dabei auftretenden offenen Fragen und Widersprüche zu anerkennen. Damit verbunden ist der Versuch der Überwindung eines Eurozentrismus, der bis heute viele Geschichtsbücher beherrscht.
Für seine Forschung bedient sich Bartoletti bei von Tschudis Originalschriften und über 500 Briefen, die er in Archiven zusammengetragen hat und die er dank seinen Deutschkenntnissen erschliessen kann. Bartoletti untersucht zudem Objekte, die von Tschudi von seinen Reisen heimbrachte. Darunter 600 ausgestopfte Tiere, die heute Teil der Sammlung des Naturhistorischen Museums Neuenburg sind.
«Von Tschudis Tagebücher sind voll mit Beschreibungen von Gewehren», erzählt Bartoletti. «Während seiner fünf Jahre in Peru hat er gejagt wie verrückt!» Bartoletti erkennt deshalb in von Tschudi den Typus des «alpinen Jägers», der in der Schweizer Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war. Bartolettis These: Noch mehr als ein begeisterter Wissenschaftler, sei von Tschudi vor allem ein passionierter Jäger gewesen.
Postkoloniale Schweiz
Zu den Objekten, die von Tschudi von seinen Reisen heimbrachte, gehört auch eine kleine Ekeko-Figur aus Stein, das Original der Statue in Bartolettis Bücherregal. Von Tschudi hatte die Figur Mitte 19. Jahrhundert einem einheimischen Priester geklaut, nachdem er diesen dazu verführt hatte, sich mit Cognac zu betrinken. So steht es in einem seiner Bücher. Die Figur ging vor fünf Jahren vom Bernischen Historischen Museum zurück nach Bolivien. Eine Episode, die ein Licht auf von Tschudis koloniale Praxis wirft: Obschon die Kolonialisierung vorüber war und die Andenstaaten ihre Freiheit von Spanien bereits erlangt hatten, bedienten sich von Tschudi und andere Forschungsreisende ganz selbstverständlich an den dortigen Kulturgütern.
«Die `Neo-Kolonialisierung`Lateinamerikas geschah nicht durch Waffen», erklärt Bartoletti. «Vielmehr nutzten Gentlemen wie von Tschudi die Wissenschaft, die Vernetzung mit lokalen Eliten, Geschäftsbeziehungen und Kartographien, um Macht auszuüben.» Bartolettis eigene Einstellung zu von Tschudi ist entsprechend ambivalent: Einerseits ist er angewidert vom tief im Kolonialismus verankerten Weltbild und dem Glauben an die eigene Überlegenheit gegenüber den Indigenen. Andererseits ist er fasziniert vom umfangreichen Wissen, dem unbändigen Schaffensdrang und der eindrücklichen Sprachkenntnisse des Naturforschers.
«Die Neo-Kolonialisierung Lateinamerikas geschah nicht durch Waffen. Vielmehr nutzten Gentlemen wie von Tschudi die Wissenschaft, die Vernetzung mit lokalen Eliten, Geschäftsbeziehungen und Kartographien, um Macht auszuüben.»Tomás Bartoletti
Dabei erkennt er durchaus Parallelen zu seiner eigenen Biographie: Die Begeisterung für Sprachen und Linguistik, der kosmopolitische Werdegang, das Schreiben, um die Welt in Worten zu ergründen. «Manchmal habe ich das Gefühl, dass er mich für diese Forschung ausgewählt hat – und nicht ich ihn», sagt Bartoletti und lacht.
Mit den Studierenden ins Museum
Die ersten fünf Monate seines zweijährigen ETH-Fellowships hat der Postdoktorand dazu genutzt, mit dem SBB-Generalabonnement möglichst viele Archive und Sammlungen zu besuchen, die für seine Forschung von Interesse sind. «Ein äusserst angenehmer Weg, um die Schweiz besser kennenzulernen.» Die schiere Menge, die Vielfalt und der Zustand der hiesigen Sammlungen haben ihn beeindruckt. «Es gibt noch so viel zu tun!», sagt Bartoletti. Er stosse immer wieder auf unerschlossene Schriften und Objekte, die Einblicke in die Verknüpfungen der Schweiz mit Lateinamerika gewähren. «Diese Quellen bergen nicht nur viel Potential für eine globale Geschichte der Schweiz und Lateinamerikas, sondern genauso für eine globale Wissenschaftsgeschichte.»
Die Faszination für die hiesigen Sammlungen teilt er aktuell mit seinen Studierenden in einem Seminar zu den Biographien von wissenschaftlichen Objekten und deren Einbettung in globale Narrative. Der grösste Teil des Seminars hält Bartoletti in Schweizer Museen und Sammlungen ab. «Wenn wir lernen, diese kritisch zu lesen, erzählen sie uns Geschichten von komplexen globalen Verflechtungen», weiss Bartoletti. «Geschichten, die teils auch unsere gängigen Vorstellungen von schweizerischer und lateinamerikanischer Identitäten in Frage stellen.»