Mit viel Gespür
Claudia Breidbach wurde ohne linken Unterarm geboren. Heute trägt sie eine motorisierte Prothese. Damit startet sie am Cybathlon 2020 als Pilotin am Geschicklichkeitsparcours für Armprothesen.
Der Motor summt leise, wenn Claudia Breidbach nach einer Tasse greift. Die Finger ihrer motorisierten Handprothese schliessen sich langsam und kontrolliert.
Breidbach wurde ohne linken Unterarm geboren – eine Laune der Natur. Ihre Kindheit war unbeschwert. «Ich kannte nichts anderes. Ich habe ja nie etwas verloren.» Ihre Eltern unterstützten sie, wo sie konnten, und trauten ihr vor allem viel zu. «Ich fühlte mich von ihnen sehr angenommen.» Doch mit elf Jahren wollte Claudia Breidbach sein wie ihre Freundinnen. Das war der Anfang eines neuen Abschnitts: ein Leben mit einer Armprothese. Das erste Modell war eine Prothese ohne Greiffunktion. Diese hilft zum Beispiel beim aufrechten Gehen oder beim Fahrradfahren. Aber das Wichtigste für Claudia Breidbach: Ihre Behinderung ist nicht auf den ersten Blick sichtbar. Doch das Kennenlernen von neuen Menschen ist und bleibt eine grosse Herausforderung. Wer interessiert sich für sie als Mensch und wer für sie als Behinderte? «Schlechte Erfahrungen haben mich sehr sensibel gemacht in zwischenmenschlichen Beziehungen.»
Ein schwieriger Moment war auch die Berufswahl. Breidbach wollte Schneiderin werden. Doch geklappt hat das nicht. «Ich kann Grenzen akzeptieren. Aber ich mag es nicht, wenn ich keine Chance bekomme.» Studiert hat sie schliesslich Architektur. Sie musste sich immer wieder beweisen und immer wieder Herausforderungen annehmen. Doch das Durchbeissen hat sich gelohnt. Sie war viele Jahre bei der Stadt Koblenz als Architektin angestellt. Heute ist ihr Beruf ihre Berufung. Breidbach arbeitet als Trainingsmanagerin beim Prothesenentwickler Össur. Sie blüht auf, wenn sie Betroffenen die Armprothesen näherbringen kann.
Breidbach trägt selber eine Prothese von Össur und nimmt damit am Cybathlon 2020 teil. Es ist eine multiartikulierende Prothese: Jeder Finger hat einen Motor. Damit hat Breidbach 36 verschiedene Griffe zur Auswahl. Das Öffnungs- und Schliesssignal steuert sie über Muskelkontraktionen im Armstumpf, der durch Elektroden mit der Prothese verbunden ist. Mittels Gesten sind weitere Bewegungen möglich. Sie kann ihre Prothese auch mittels einer App steuern und damit die Griffe sogar selbst programmieren. Diese neue Prothese verändert ihr Leben. «Die Menschen begegnen mir anders. Der Stolz hilft, er macht mich selbstbewusster. Das strahle ich aus.» Diese Prothese ermöglicht ihr aber auch einen hohen Grad an Selbstständigkeit. «Ich liebe meine Prothese. Ich bin mit ihr sehr verbunden. Sie macht mein Leben lebenswerter.»
Im Moment ist Claudia Breidbach vor allem damit beschäftigt, für den Cybathlon 2020 zu trainieren. Sie hat schon vor vier Jahren am Geschicklichkeitsparcours für Armprothesen teilgenommen. Auf eine neue Disziplin des Parcours freut sie sich besonders. Die Haptik-Box ist ihr ganz persönliches Highlight. Die Cybathlon-Piloten müssen ohne visuelles Feedback Objekte unterschiedlicher Formen und Materialien ertasten – mit der Prothese. «Das Gefühl, mit der linken Hand zu spüren, kannte ich nicht. Nach den ersten Trainingseinheiten konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Ein ergreifender Moment!»
Breidbach kann es kaum erwarten, am Cybathlon zu zeigen, was sie und ihre Armprothese können. Das Publikum wird die Piloten anfeuern. Das leise Summen des Motors wird dann nicht mehr zu hören sein.
Die Reha-Initiative fördern
Gemeinsam mit Behindertenorganisationen, Kliniken, Behörden und Unternehmen arbeiten Forschende der ETH daran, eine umfassende Rehabilitation sicherzustellen. Donationen der Stavros Niarchos Foundation sowie zahlreicher Privatpersonen verliehen dem Vorhaben 2019 ergänzend zur Förderung durch die Wilhelm Schulthess-Stiftung einen grossen Schub. Die ETH sucht weitere Förderpartner.
Dieser Text ist in der aktuellen Ausgabe des ETH-Magazins Globe erschienen.