Der neue Alltag an der ETH

Die ETH Zürich musste wegen der Corona-Krise innert kürzester Zeit ihren experimentellen Forschungsbetrieb einstellen und die Lehre ins Internet verlegen. Was diese Umstellung im Alltag bedeutet, zeigt ein Bericht aus dem Departement Physik.

Hönggerberg
Leergefegter Campus Hönggerberg am 20. März am Mittag. (Bild: Gina Moser / ETH Zürich)

Manfred Sigrist, Professor für theoretische Physik, hält seit 1995 Vorlesungen an der ETH Zürich. Die grossen Wandtafeln in den Hörsälen sind für ihn das wichtigste Vermittlungs-Tool. Wie kommt er nun damit klar, dass seit dem 16. März keine Studierenden mehr physisch auf dem Campus anwesend sein dürfen?

Eigentlich bemerkenswert gut. «Mit viel Improvisationstalent und eilig zugekauftem Equipment haben wir die Hörsäle für Videostreaming tauglich gemacht», erklärt Marius Simon von den Akademischen Betrieben des Departements Physik. Kabel und Kameras belegen die leeren Sitzreihen. Eine interessante Mischung aus physischer und virtueller Präsenz entsteht nun während den Vorlesungen: Eine Kamera fängt nun die grosse Tafel ein; vor ihr steht Sigrist alleine mit der Kreide in der Hand und spricht zu seinem virtuell zugeschalteten Publikum. Für die Experimentalphysikbaut Simons Team die Experimente noch immer physisch im Hörsaal auf, damit sie nahtlos in die Vorlesung integriert werden können.

Sehr rasche Umstellung

Dabei braucht es ungewöhnliche Ideen: Je nach Bandbreite sehen die Studierenden die Tafeln nur verpixelt. Sigrist macht deshalb in der Pause ein Foto und stellt es auf die Lernplattform Moodle, bevor er die Tafel für den zweiten Teil reinigt. Fragen beantwortet er am Schluss der Vorlesung. Dann stellt er sich vor seinen Laptop, wo er – anders als an der Tafel – die elektronischen Wortmeldungen der Studierenden sehen kann. In der Zwischenzeit stellt ein Assistent für ihn die Verbindung zur virtuellen Welt sicher.

Auch die Übungsstunden finden über das Video-Conferencing-Tool statt. Die Assistentinnen und Assistenten arbeiten allerdings nicht mit Kreide und Tafel, sondern mit elektronischen Stiften und Tablets. «Es geht überraschend gut, ich bin erstaunt, wie schnell an der ETH alles umgestellt wurde», sagt die Mathematik-Hilfsassistentin Anna Knörr, die im Moment ebenfalls von zuhause aus arbeitet. «Wir nutzen die Joint-White-Board-Funktion des Tools für unsere Übungsstunden – eine super Funktion, wenn das Internet gut läuft. Wichtig ist für mich, dass alle die Kamera einschalten und Fragen mündlich stellen.»

Suche nach neuer Normalität

Die rasche Reaktion der ETH und des Departements schätzen die Studierenden sehr – gerade auch, wenn sie sich mit anderen Studierenden im Ausland vergleichen. Interessant ist für sie zu sehen, wie verschieden die Professorinnen und Professoren die Tools einsetzen und zum Teil mit Spass neue Methoden entwickeln. «Eine Auswertung in den nächsten Wochen birgt wohl viel Erneuerungspotential für die ganze ETH», ist Knörr überzeugt.

«Der frustrierteste Moment der letzten Tage war, als bei mir das Internet zusammenbrach», erzählt Knörr. Sie ist nicht die Einzige, der das zusetzt. Auch viele Mitarbeitende kämpfen zuhause mit Netzproblemen an ihren möglichst fern von der Familie eingerichteten provisorischen Arbeitsplätzen. In der zweiten Homeoffice-Woche funktioniert zwar vieles bereits besser, doch verblasst die erste Euphorie des Neuen und es wird eine gewisse Ermüdung spürbar. Nun heisst es, die hohe Geschwindigkeit wieder auf ein normales Niveau zu bringen und eine gute Struktur in den neuen Arbeitsalltag zu bringen.

Kommunikation ist zentral

Kämpft man zuhause mit technischen Problemen, ist es umso wichtiger, trotzdem über alles gut informiert zu sein. Die Kommunikation war deshalb nicht nur auf Hochschulebene wichtig, sondern auch innerhalb des Departements. Das Departement Physik hat auf seiner Webseite an prominenter Stelle Informationen zur Corona-Krise aufgeschaltet und ein Wiki eingerichtet, das einen Erfahrungsaustausch unter den Dozierenden und Forschenden ermöglicht. Die durchwegs positiven Rückmeldungen zeigen, dass sich der hohe Einsatz gelohnt hat.

Auch die IT-Service Group des Departements war gefordert: Geduldig half sie mit Support, damit auch im neuen Homeoffice die Informationen fliessen, die Hardware funktioniert und die zum Teil neu zur Verfügung gestellten Tools rasch genutzt werden können. Auch für den informellen Austausch wurden Lösungen gefunden: Das «Quantum Science and Technology»-Lunchseminar mit rund 30 Teilnehmenden wird schon bald online durchgeführt – wobei jeder sein Essen mit vor den Bildschirm bringen wird. Virtuelle Kaffeepausen haben sich bei einigen Gruppen bereits etabliert.

Praktikum@Home

Neue Wege beschreitet das Departement auch bei den Praktika, damit das Studium ohne Einbussen weitergeführt werden kann. Rund die Hälfte aller 120 Physik-Studierenden hat am 23. März am erstem «Praktikum@Home» teilgenommen. Die Akademischen Betriebe entwickeln nun mit Hochdruck neue Experimente für zuhause. Ziel ist, den Studierenden einen möglichst guten Ersatz für die üblichen Praktikumsplätze vor Ort anzubieten.

Experimente mit Fokus auf Datenanalyse eignen sich für die Bearbeitung von zuhause aus besonders gut. Solche Experimente waren bereits vor der Notsituation angedacht und werden jetzt rasch realisiert. Auch Elektronik-Experimente können die Studierende gut zuhause mit einer Simulationssoftware durchführen. Doch die Zuständigen für das Praktikum wollen mehr als nur Messdaten zur Verfügung stellen. Sie wollen das Online-Praktikum lebendiger gestalten. Dazu tragen auch die Assistierenden mit ihren Ideen bei. Sechs bis acht neue Experimente werden nun entwickelt, bei denen die Studierenden die Sensoren in ihren Smartphones als Messgeräte nutzen können. Auch in Zukunft, wenn alles wieder normal läuft, werden diese Experimente bei Stosszeiten zum Einsatz kommen.

Fünf Tage statt fünf Jahre

Departementskoordinator Sebastian Huber, der sein Amt erst seit drei Monaten innehat, bringt es auf den Punkt: «Online-Teaching haben wir nun in fünf Tagen eingeführt. Unter normalen Umständen wäre das ein Fünfjahresprojekt gewesen.» Zu erleben wie eine komplexe Organisation zusammenarbeitet, damit das Semester für die Studierenden trotz der Notfallsituation nicht verloren geht, spornt auch ihn an. «Wir haben die Entscheidungsfindung enorm beschleunigt – im Wissen darum, dass wir uns mit unserem proaktiven Verhalten manchmal etwas exponiert haben. Mit einer gesunden Fehlerkultur haben wir aber für die meisten Probleme eine gute Lösung gefunden», berichtet Huber.

In dieser turbulenten Zeit hat sich so eine neue Fehlerkultur etabliert, von der alle in Zukunft profitieren werden. Denn wer sich an Neues wagt, muss Fehler machen dürfen. In dieser Extremsituation öffnen sich plötzlich neue Horizonte und weichen sich Strukturen auf. «Ich hätte in meinem kühnsten Traum nie gedacht, dass die harten Massnahmen, die wir nun treffen mussten, auf allen Ebenen so viel guten Willen, Energie und schnelle Akzeptanz finden würden», meint Departementsvorsteher Jérôme Faist. «Wir können wirklich stolz sein, wie unser Departement mit dieser Krise umgeht.»

Einschneidende Folgen

Natürlich gibt es auch kritische Stimmen. Nicht alle im Departement hätten an der Stelle der Departementsleitung die einschneidenden Massnahmen so proaktiv und konsequent eingeleitet. Denn das Herunterfahren des Departements hat für viele grosse Konsequenzen. Die Forschung steht nun grösstenteils plötzlich still, ganz unabhängig davon, an welchem Punkt die Messungen und Experimente standen. Davon sind insbesondere die Doktorierenden betroffen: Sie können ihre in langer Vorbereitung angelegten Experimente nicht mehr weiterführen und werden, je nach Stand ihrer Arbeiten, nicht wie geplant abschliessen können. Für sie braucht es nun individuell abgestimmte Lösungen.

Geschlossen sind auch die Werkstätten. Die Werkstattmitarbeitenden sind zuhause, die dreizehn Lernenden im Departement Physik , die kurz vor ihrer Lehrabschlussprüfung stehen, müssen deshalb mit den praktischen Arbeiten pausieren Wann die Prüfungen für die rund fünfzig Lernenden der ETH stattfinden werden, weiss noch niemand.

Notbetrieb bleibt erhalten

Auch wenn die experimentelle Forschung in den Labors im Moment zum Schutz der Mitarbeitenden weitgehend gestoppt ist, können nicht einfach alle Geräte und Experimente ausgeschaltet werden. So bleiben etwa die teuren NMR-Geräte in Betrieb, die ohne durchgehende Kühlung mit Flüssiggasen Schaden nehmen würden. Da das Departement Physik auch an andere Departemente Flüssiggase liefert, wurde ein Notbetrieb installiert, damit beispielsweise wertvolle Langzeitproben in der Biologie nicht verloren gehen. Eine kleine Crew von Mitarbeitenden steht nun im Turnus im Einsatz, damit im Notfall zentrale Aufgaben und Stellvertretungen übernommen werden können.

Die Krise hat auch unerwartet positive Effekte: So können die Sanierungsarbeiten in den Physikgebäuden und Labors, die seit Anfang Jahr die Forschung zum Teil stark erschwert haben, nun ohne Einschränkungen fortgesetzt werden. Da bloss ein kleines Handwerksteam auf dem ganzen Gebäude verteilt arbeitet, kann es die Hygiene-Auflagen erfüllen. Sofern Bauarbeiten auch weiterhin möglich bleiben, können die Sanierungsarbeiten nun schneller abgeschlossen werden als ursprünglich geplant.

Weitere Informationen­

Coronavirus-Webseite

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert