Haben Flugmeilen als Statussymbol endlich ausgedient?
Seit knapp zwei Monaten arbeiten viele fast vollständig im Homeoffice. Das klappt viel besser, als manche befürchtet haben. Diese neue Selbstverständlichkeit wird die Arbeitswelt nachhaltig verändern, meint Gudela Grote.
Viele von uns haben in den letzten Wochen gelernt, dass wir unsere Arbeit auch ohne Geschäftsreisen und ohne Pendeln erstaunlich gut erledigen können. Wir haben gleichzeitig erfahren, dass mit dem Verzicht auf Reisen ganze Industriezweige in grösste Schwierigkeiten geraten. Dies führt drastisch vor Augen, warum die Bemühungen, den Klimawandel in den Griff zu bekommen, so schleppend vorankommen. Wenn wir die Erderwärmung verlangsamen oder gar stoppen wollen, sind einschneidende wirtschaftliche Umstrukturierungen unumgänglich. Die Chancen, dass in der Coronakrise Politikerinnen und Politiker umsichtig genug sind, Wirtschaftshilfe so aufzugleisen, dass gleichzeitig solche Umstrukturierungen gefördert werden, stehen leider nicht gut. Alles scheint darauf ausgerichtet, dass Unternehmen möglichst schnell wieder dorthin kommen, wo sie vor der Krise waren.
Neue Normalität entwickelt sich "bottom-up"
Wenn also "top-down" eher kein fundamentales Umdenken zu erwarten ist, ist es umso wichtiger, dass dies "bottom-up" – das heisst bei uns allen – stattfindet. Welche Erfahrungen haben wir als Arbeitnehmende, aber auch als Arbeitgebende gemacht, die es sich lohnt, in die vielberufene neue Normalität mitzunehmen und in den zukünftigen Arbeitsalltag einfliessen zu lassen?
An erster Stelle steht da wohl bei den meisten: Arbeiten von zuhause geht - und sogar gut! Und zwar trotz widriger Umstände, die durch den abrupten Wechsel und die parallelen Anforderungen an Kinderbetreuung bedingt sind. Was in der Schweiz bisher eher ein Luxus Weniger war, ist nun zur weitverbreiteten Arbeitspraxis geworden. Auch wenn wir uns sicher alle darauf freuen, die Arbeitskolleginnen und -kollegen wieder um einen echten Mittagstisch versammelt zu sehen, Teamzusammenhalt kann auch durch virtuelle Kaffeepausen via Zoom und ein wenig Smalltalk auf Slack gefördert werden. Die Hersteller dieser Technologien freut es, auch wenn es gilt, offensichtlich gewordene Sicherheitslücken noch zu schliessen.
Doch, die arbeiten wirklich
Neben dem geringeren Teamgefühl war bis anhin das wichtigste Argument gegen das Arbeiten von zuhause, der Kontrollverlust, den viele Chefinnen und Chefs befürchten. «Arbeiten die denn zuhause auch wirklich oder surfen sie dann nicht noch mehr unnötig auf dem Internet ...?» habe ich selbst von jüngeren Führungspersonen noch oft als Einwand gehört. Die Wissenschaft weiss schon lange, dass meist das Gegenteil der Fall ist: Die Arbeitsleistung und die Verbundenheit mit dem Unternehmen steigen, weil die Möglichkeit des zuhause Arbeitens geschätzt und dem Arbeitgeber mit erhöhtem Einsatz verdankt wird. Nun haben das viele Vorgesetzte direkt erfahren können und vertrauen hoffentlich ihren Mitarbeitenden in Zukunft mehr.
«Zukünftig sollte in jedem Fall viel kritischer beurteilt werden, ob eine Geschäftsreise wirklich nötig ist. Sie sollte sachlich und nicht egomanisch begründet sein.»Gudela Grote
Einen Wermutstropfen gibt es allerdings: Bei unserer derzeitigen Untersuchung der neuen Arbeitsformen an der ETH erwähnen Viele, dass das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen, gewachsen ist. Auch dies ist kein neues Thema. Aber aus meiner Sicht wird es noch dringlicher, wenn durch mehr Homeoffice von Vielen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben für jeden Einzelnen, aber zunehmend auch für das ganze Team verschwimmen. Klare Regeln für das "offline sein dürfen" sind unabdingbar.
Ein neues Klimaziel: Halb so viele Geschäftsreisen
Und wie steht es mit den Geschäftsreisen? Da wissen wir inzwischen: Es geht auch ohne! Videokonferenzen funktionieren immer besser, persönliche Nähe und informelle Kommunikation sind auch im virtuellen Raum möglich. Aber der eine und die andere hat sicher auch erlebt, dass Missverständnisse und Konflikte schwerer erkannt und behoben werden können. Und die zufälligen Begegnungen, die bei grösseren Geschäftsanlässen entstehen und sich später als zukunftsweisend herausstellen, sind virtuell schwer bis gar nicht denkbar.
Daher meine vorläufige Schlussfolgerung: Ganz ohne Reisen geht es nicht, aber wahrscheinlich mit viel weniger. Das freut diejenigen, die dem Aufenthalt in Flughäfen und Flugzeugen wenig abgewinnen können. Anderen geht damit ein wichtiges Statussymbol verloren. Aber das Streben nach zehn Millionen Frequent Flyer Meilen von George Clooney in Up in the air ist ja eigentlich auch eher traurig mitanzusehen. Zukünftig sollte in jedem Fall viel kritischer beurteilt werden, ob eine Geschäftsreise wirklich nötig ist. Sie sollte sachlich und nicht egomanisch begründet sein. Leicht wird das aber sicher nicht.
Der Beitrag erscheint ebenfalls in den externe Seite Blogs des Tages-Anzeigers.