Eine Mikrobiologin für «Schreibabys»
Vanesa Rocha Martin untersucht, wie Koliken bei Säuglingen mit Bakterien behandelt werden können. Im Rahmen eines «Pioneer Fellowships» entwickelt sie ihre Erkenntnisse derzeit zu einer ersten, nachweislich wirksamen Therapie weiter.
Vanesa Rocha Martin sitzt während unseres Skypegesprächs Ende April vor dem Laptop und saugt mit einem metallenen Trinkröhrchen, der Bombilla, an einem Mate-Tee. Auch sie arbeitet wegen COVID-19 im Homeoffice und kann ihre Forschung im Labor nicht weiterführen. Das beunruhigt sie aber nicht sonderlich: «Ich gehe davon aus, dass ich bald wieder vereinzelt ins Labor gehen kann. Dann halten sich auch die Verzögerungen beim Aufbau unseres Start-ups in Grenzen.»
Die 32-jährige Biotechnologin ist eine von zwölf jungen Forschenden, die im Rahmen eines «Pioneer Fellowships» ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse an der ETH zu einem marktfähigen Produkt weiterentwickeln. Rocha Martins Idee ist eine Therapie gegen die Dreimonatskolik bei Neugeborenen. Davon sind rund 20 Prozent der Säuglinge betroffen.
In den ersten drei Lebensmonaten schreien die betroffenen Säuglinge an mindestens drei Tagen die Woche mehr als drei Stunden. Eine enorme Belastung für die Babys und die Eltern. Bis heute gibt es keine Therapie, deren Wirkung wissenschaftlich anerkannt wäre. Gastroenterologen sind meist ratlos. Rocha Martin will dies ändern – mit natürlichen Bakterien; ähnlich denjenigen, die bereits im menschlichen Darm vorkommen.
Veterinärmedizinerin für den eigenen Hof
Rocha Martin ist ursprünglich Veterinärmedizinerin. Zu ihrem aktuellen Forschungsgebiet fand sie über eine Reihe von Zufällen. Sie wuchs in Bahia Blanca auf, einer Hafenstadt am Südatlantik, 650 Kilometer südlich von Buenos Aires. Ihr Vater war Bäcker, die Mutter kam aus einer Bauernfamilie. Als der Grossvater starb, wurde die Familie durch das Erbe des Hofs über Nacht zum Inhaber eines Bauernbetriebs mit 300 Kühen.
Mit der Idee, ihre Familie auf dem Hof zu unterstützen, entschied sich die junge Frau nach der Schule für ein Studium in Veterinärmedizin. Zu ihrem Erstaunen lernte sie dort aber fast genauso viel über den menschlichen Körper wie über Tiere. «Die in Argentinien erhältlichen Bücher zu Veterinärmedizin waren veraltet. Deshalb lernten wir mit solchen aus der Humanmedizin und übertrugen die Erkenntnisse dann auf Tiere.» Dass ihr dieser ungewöhnliche Umweg später zugutekommen würde, konnte sie damals nicht wissen.
«Ich habe zwei Brüder und beide sind deutlich jünger als ich. Ich habe das Wunder ihrer Geburt und ihrer ersten Lebensmonate deshalb sehr bewusst miterlebt.»Vanesa Rocha Martin
In ihrer ersten Vorlesung in Mikrobiologie machte sie eine Entdeckung, die für den weiteren Werdegang entscheidend sein sollte: Der menschliche Darm ist von unzähligen Mikroben besiedelt, die für unsere Verdauung und unsere Gesundheit essentiell sind. «Es war ein wenig als würde ich eine neue, unbekannte Welt kennenlernen.» Kurz darauf erfuhr sie zufällig von einer häufigen Krankheit, die bei Kleinkindern zu Nierenversagen führt. Verursacht wird diese durch E.coli-Bakterien aus Schlachtvieh.
Rocha Martin erkannte eine Möglichkeit, ihr Wissen für die öffentliche Gesundheit einzusetzen. Sie überzeugte ihre Professorin davon, dass sie zum Abschluss des Grundstudiums die Zusammenhänge zwischen Darmmikroben und dieser Krankheit erforschen konnte. Dafür erhielt sie ihr erstes, einjähriges Forschungsstipendium.
Fortan brachte sie regelmässig Fäkalienproben aus dem Spital ihrer Heimatstadt, die von der Krankheit besonders betroffen war, zur Untersuchung ans Labor der Universität – ihre erste Erfahrung mit klinisch-universitärer Forschung. Gleichzeitig war der Zeitpunkt gekommen, ihrer Familie zu eröffnen, dass sie diese nicht bei der Tierpflege auf dem Hof unterstützen werde, sondern unbedingt Forscherin werden wolle.
Kulturschock in Uppsala
Rocha Martins Leidenschaft für Forschung blieb an der Universität nicht unbemerkt. Ein Professor machte sie auf das EU-Studienprogramm «Erasmus Mundus» aufmerksam. 800 Studierende bewarben sich auf 16 Plätze. Sie wurde gewählt und stand sechs Monate später mit gepacktem Koffer in Uppsala in Schweden, mehr als 12’000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat.
Ihre Ankunft in Schweden fiel auf den September, es war kalt und regnerisch. Sie lebte auf dem Land, das Studium war zu Beginn eine Wiederholung und die meisten Schweden waren mit ihrer Offenheit und ihrem Temperament überfordert. «Die ersten Wochen waren fürchterlich; ich wollte sofort nach Argentinien zurückkehren», erinnert sich die Forscherin.
Ihre Rettung lag darin, dass ihr Professor aus Buenos Aires ein Sabbatical an derselben Universität verbrachte. Er holte Rocha Martin als Forschungsassistentin auf den Hof des «Swedish Livestock Research Centre», wo sie bei der Entnahme, Aufarbeitung und Untersuchung von Proben aus Pansen, Fäkalien und Milch für mikrobiologische Tests half. «Auch wenn es dabei wieder um Tiere ging, lernte ich ein Methode kennen, die für meine weitere Forschung sehr wichtig werden sollte», erzählt sie.
Mit der DNA-Sequenzierung hatten Mikrobiologen wenige Jahre zuvor ein Werkzeug erhalten, um Darmmikroben aufzuspüren, die bislang unbekannt waren. Lange Zeit war die Vermehrung der Mikroben im Labor der einzige Nachweis. Doch nicht alle liessen sich auf Petrischalen züchten. Das zweite Masterstudienjahr verbrachte die Argentinierin in Dänemark. An der Universität Kopenhagen arbeitete sie an einem Forschungsprojekt zu Wechselwirkungen zwischen Fitness, Muskelstruktur und Darmmikroben bei älteren Menschen.
Faszination für Säuglingsgesundheit
Dass sich Rocha Martin danach für eine Doktoratsstelle im Bereich Säuglingsgesundheit umsah, hatte erneut biographische Gründe: «Ich habe zwei Brüder und beide sind deutlich jünger als ich. Ich habe das Wunder ihrer Geburt und ihrer ersten Lebensmonatedeshalb sehr bewusst miterlebt.»
Wie ein Kind in den ersten Monaten alleine durch die Muttermilch alle essentiellen Nahrungsbestandteile erhält, findet sie bis heute faszinierend. Damals hegte sie den Wunsch, die Darmmikrobiologie von Kleinkindern zu erforschen. Dass sie dafür in die Schweiz weiterzog, verdankt sie einem dänischen Kollegen, mit dem sie wandern ging. Sie erzählte ihm davon, und es stellte sich heraus, dass eine Freundin von ihm im gleichen Bereich forschte – am Labor für Lebensmittelbiotechnologie an der ETH Zürich.
Dort beschäftigt sich Professor Christophe Lacroix` Gruppe seit Jahren mit der Darm-Mikrobiologie von Säuglingen – insbesondere in Hinblick auf deren Funktion bei Dreimonatskoliken. Seine Forschung legt nahe, dass ein Ungleichgewicht bei der Zusammensetzung der Darmmikroben schmerzvolle Blähungen erzeugt.
Rocha Martin konnte auf zwei vorhergehenden Doktorarbeiten aufbauen und identifizierte Bakterienstämme, die das Gleichgewicht wiederherstellen sollen. Dafür arbeitete sie vor allem mit zwei Modellen: einer speziellen Anlage in Lacroix` Labor zur In-Vitro-Simulation von natürlichen Prozessen in der Darmflora und In-vivo-Tests mit Laborratten.
«Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass wir mit natürlichen Probiotika, wie sie auch in Molkereien verwendet werden, eine Therapie gegen die Dreimonatskoliken entwickeln können», sagt Rocha Martin. Seit Anfang Jahr entwickelt sie diese Idee gemeinsam mit den Professoren Lacroix und Christian Braegger vom Universitäts-Kinderspital Zürich weiter.
Erste Patente haben sie bereits angemeldet und ab 2022 sollen die erfolgversprechendsten Bakterienstämme in klinischen Studien getestet werden. Die Forschenden streben mittelfristig eine Anwendung als Nahrungsmittelzusatz und in Form von Tropfen an. «Ich gehe davon aus, dass wir bis in fünf Jahren eine erste nachweislich wirksame Therapie in den Markt einführen können.»
Forschen gegen das Heimweh
Die Jungforscherin freut sich darauf, im Rahmen des 18-monatigen Fellowships und mit ihrem Start-up namens «BactoKind» einen Schritt Richtung Unternehmertum zu machen. Sie investiere viel in das Projekt, sagt sie, denn ihre Leidenschaft für die Forschung sei auch ein Trost dafür, dass sie ihre Familie in Bahia Blanca meist nur an Weihnachten sehe.
Trotz der Distanz zur Familie möchte sie längerfristig in Zürich bleiben. Die Bedingungen für ihre Forschung seien an der ETH ideal. «Zudem liebe ich grosse Barbecues mit Freunden», erzählt sie. «Und in Zürich gibt es viele schöne Orte dafür.»