Wegbereiterin für neue Ära der Proteinanalytik
Die Systembiologin Paola Picotti erhält für ihre bahnbrechenden Arbeiten in der Proteomik den diesjährigen Rössler-Preis. Mit dem von ihr entwickelten Ansatz können Veränderungen bei tausenden Proteinen gleichzeitig gemessen werden. Dies ebnet den Weg für personalisierte Therapien.
Die Aufregung war gross, als im März 2003 erstmals ein menschliches Genom vollständig sequenziert worden war. Die Hoffnung: Krankheiten wie Krebs oder MS könnten bestimmten Genen zugeordnet und mit diesem Wissen hochspezifische Therapien entwickelt werden. Bald stellte sich jedoch heraus, dass der Organismus und dessen Krankheiten weit komplexer sind. Heute weiss man: Die Kenntnis des Proteoms, also der Gesamtheit der Proteine und ihrer Interaktionen, ist ein weiterer Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Gesundheit. Proteomik nennt sich dieses Fachgebiet – und Paola Picotti, Professorin für molekulare Systembiologie an der ETH Zürich, gehört zu dessen prominentesten Vertreterinnen.
Mit 43 Jahren hat sie erreicht, was bei anderen ein Lebenswerk ist: 2017 wurde sie zur Professorin (tenure) ernannt und führt seither eine 20-köpfige Forschungsgruppe. Sie ist Autorin von 78 Publikationen, wovon viele in den bekanntesten Fachmagazinen erschienen sind. Zweimal schon erhielt sie eine Förderung des Europäischen Forschungsrats (ERC). 2019 erhielt sie die EMBO-Goldmedaille, mit der jährlich international anerkannte Leistungen in den Life Sciences ausgezeichnet werden.
In diesem Jahr folgt nun der Rössler-Preis, die mit 200'000 Franken Preisgeld höchstdotierte Auszeichnung der ETH Zürich, ermöglicht durch eine Schenkung des ETH-Alumnus Max Rössler an die ETH Foundation. ETH-Präsident Joël Mesot freut sich: «Paola Picotti ist eine ausgezeichnete Wissenschaftlerin von internationalem Renommée. Die von ihr entwickelten Technologien erweitern unser Verständnis für fundamentale Prozesse der menschlichen Gesundheit, im speziellen von biochemischen Prozessen, die zu Fehlentwicklungen und Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer führen.»
«So komplex, so mysteriös»
Paola Picotti wuchs in Udine nahe Triest auf. Die Mutter eine Mathematiklehrerin, der Vater Angestellter in einem Elektronikunternehmen. Sie gehörte zu denjenigen Kindern, die ihren Eltern ein Loch in den Bauch fragen. «Ich wollte die Dinge verstehen», erinnert sich Picotti. «Wenn mich etwas interessierte, dann bohrte ich tiefer und tiefer.»
In der Sekundarschule begeisterte sich Picotti für die Chemie und nahm bald an regionalen Schülerwettbewerben teil. «Medizin hat mich ebenfalls sehr interessiert, aber dafür bin ich etwas zu sensibel, was den menschlichen Körper angeht», erzählt Picotti. Sie schrieb sich deshalb für ein Studium in medizinischer Chemie an der Universität Padua ein – derjenigen Universität, an der Galileo Galilei im 16. Jahrhundert als Mathematikprofessor gelehrt hatte. Dort sah sie erstmals das Bild der molekularen Struktur eines Proteins: «Das war so komplex, so mysteriös – ich war sofort fasziniert.»
Proteine sind die Grundbausteine sämtlicher Zellen. Sie verleihen diesen ihre Struktur und sind für den Stofftransport sowie die Kontrolle der molekularen Abläufe in der Zelle zuständig. In ihrer Doktorarbeit vertiefte sich die Forscherin auf Proteinchemie und lernte dabei die Massenspektrometrie (MS) kennen. «Mir wurde das Potenzial in Hinblick auf die Proteomanalyse schnell bewusst.» Während ihrer Doktorarbeit in Padua fokussierte sie sich auf die Charakterisierung des Neuroglobins, ein Protein, das beim Menschen für den Sauerstofftransport ins Gehirn mitverantwortlich ist.
Die Dissertation war nicht nur fachlich, sondern auch organisatorisch eine Herausforderung: Einige Monate nach Beginn fiel ihr Betreuer krankheitsbedingt aus. Sie war nun weitgehend auf sich alleine gestellt, schmiedete Kollaborationen mit Forschenden in Belgien, um an gute Samples zu kommen, und eignete sich die wichtigsten Fähigkeiten für die Analyse selbständig an. «Obwohl zu Beginn sehr frustrierend, war das am Ende ein bereicherndes Erlebnis», sagt Picotti heute. «Ich lernte mich als Forscherin zu organisieren, selbständig zu arbeiten und meinen eigenen Interessen zu folgen.»
Aebersold, der Motivator
Der Umzug von Padua nach Zürich im Januar 2007 war ein Entscheid für die Proteomik. Ruedi Aebersold, Mitgründer des Instituts für Molekulare Systembiologie an der ETH Zürich, ist ein Pionier auf dem Gebiet der Proteomik. Picotti war überzeugt, dass sie dort das Rüstzeug für eine Karriere als Forscherin in der Proteinanalytik finden würde. Sie schrieb eine Anfrage und Aebersold lud sie als Gastforscherin in sein Labor ein. «Ohne Lohn und mit der Vorwarnung, dass er mich nicht gross betreuen könne.» Damals führte der kürzlich emeritierte Professor noch dutzende Mitarbeitende in Labors in Zürich und Seattle. Picotti sagte zu, zog für neun Monate in ein Studentenheim auf dem Hönggerberg und hielt sich mit einem Fellowship aus Italien über Wasser.
«Mein Englisch war damals noch ziemlich schlecht», erinnert sie sich. «Nach dem ersten Gruppentreffen dachte ich: Das war's, hier werde ich mich niemals beweisen können.» Doch es kam anders: Nach neun Monaten stellte Aebersold Picotti als Postdoc an. «Ruedi war enorm inspirierend. Er hatte stets ein offenes Ohr für die Ideen seiner Mitarbeitenden und motivierte sie mit seinen Kommentaren dazu, noch einen Schritt weiterzugehen.»
Während den vier Jahren am Institut für Molekulare Systembiologie entwickelte die junge Forscherin eine neue, auf Massenspektrometrie basierende Methode zur Proteinanalyse. Monate verbrachte sie im ersten Untergeschoss des Instituts, wo die Geräte der Gruppe standen. Dort feilte sie an Messparametern und neuen Verfahren für die Datenanalyse. Resultat war das «Selected Reaction Monitoring» (SRM), eine Proteom-Analyse, mit der sich eine exakt definierte Auswahl an Proteinen in komplexen Analyseproben zuverlässig und in Rekordzeit bestimmen lassen.
2013 wurde SRM vom renommierten Fachmagazin «Nature Methods» als Methode des Jahres gekürt. Heute wird sie von Biotechnologen weltweit eingesetzt und spezialisierte Unternehmen verkaufen spezifische Hard- und Software dafür. «Das war ein wichtiger Erfolg», résumiert Picotti. «Ich gewann damals internationale Anerkennung und das nötige Selbstvertrauen.»
In dem von Männern dominierten Wissenschaftsbetrieb ist letzteres besonders wichtig. Mehr als einmal hat Picotti die Ignoranz von Kollegen erlebt, die ihre erfolgreiche Anwerbung von Forschungsgeldern mit den Worten kommentierten, das verdanke sie nur ihrem Geschlecht. Die Unterstützung junger Forscherinnen ist Picotti deshalb ein Anliegen. Sie tritt an Podien auf und setzt sich für die Vereinbarkeit von Familie und Karriere ein. Sie weiss, wie schwierig das ist, hat sie doch selbst zwei Söhne und einen Mann, der Vollzeit in der Forschung arbeitet. Von ihren Erfahrungen inspiriert, startete sie in ihrer Gruppe ein Pilotprojekt, bei dem Eltern bei Krankheit oder dem Ausfall einer Tagesstätte Unterstützung für eine Kinderbetreuung anfordern können.
Völlig neue Anwendungen
Picottis jüngste Auszeichnungen mit der EMBO-Goldmedaille und dem Rössler-Preis gehen vor allem zurück auf die ihre Entwicklung der «Limited Proteolysis Mass Spectrometry» (LiP-MS). Das Verfahren ist eine Kombination aus «LiP», einem biochemischen Verfahren, das Picotti während ihrer Doktorarbeit oft nutzte, und ihrer Massenspektroskopie-Expertise. Das Verfahren erlaubt die Detektion von strukturellen Proteinveränderungen in komplexen biologischen und klinischen Proben – und dies für tausende von Proteinen gleichzeitig. Davor dauerte die detaillierte Charakterisierung eines einzelnen Proteins mit gängigen Methoden jeweils Monate. «Dank LiP-MS können wir die Massenspektrometrie einsetzen, um Proteinstrukturen für gesamte Proteome zu messen», erklärt Picotti. «Dadurch wird sie für komplett neue Bereiche interessant.»
Picotti ist vom Potenzial der Methode für die Entwicklung neuer Therapien überzeugt. Wirkstoffkandidaten könnten künftig direkt auf Gewebeproben, zum Beispiel aus dem Hirn, darauf getestet werden, wie sie sich auf das Wechselspiel der Proteine auswirken. «LiP-MS erweitert unser Verständnis, wo Wirkstoffe an Proteine andocken und wie sie dort wirken», erklärt die Forscherin.
Aktuell entwickelt ihre Gruppe «strukturelle Biomarker» basierend auf LiP-MS. Damit können die Forschenden in Körperflüssigkeiten von Parkinsonpatienten eine Reihe von Proteinen nachweisen, die während des Krankheitsverlaufs strukturelle Veränderungen durchlaufen. Solche Marker sollen künftig dazu dienen, Parkinson frühzeitig zu erkennen und gezielter zu therapieren.
Inspiration ausserhalb des Fachs
Gefragt nach einem Karrieretipp für junge Forschende, antwortet Picotti: «Es ist entscheidend, seine eigene Forschungsnische zu finden. Dafür muss man Dinge aus einer eigenen Perspektive betrachten und nicht einfach dem Mainstream folgen.» Von Zeit zu Zeit besuche sie deshalb auch Konferenzen ausserhalb ihres Fachgebietes, zum Beispiel von klinischen Medizinern oder Computerwissenschaftlern. «Es hilft, sich anderen Ideen und Denkweisen auszusetzen. So entstand ursprünglich auch die Idee für LiP-MS.»
Das Rössler-Preisgeld will Picotti nun einerseits für die Entwicklung im eigenen Team sowie für neue Laborinfrastruktur einsetzen. Andererseits will sie einen Teil für den Corona-Impulsfonds spenden, den die ETH Foundation im Kampf gegen die Pandemie lanciert hat. «Mir gefällt die Vorstellung, dass ich damit ETH-Forschung gegen Covid-19 und Studierende in finanzieller Not unterstützen kann», sagt die Forscherin.
Der Rössler-Preis
ETH-Alumnus Max Rössler vermachte 2008 der ETH Foundation zehn Millionen Franken. Mit dem Zins aus diesem Vermögen stiftet er einen jährlichen Förderpreis für ETH-Professorinnen und Professoren in der Expansionsphase ihrer Forschungskarriere. Der Preis ist mit 200'000 Franken die höchstdotierte Auszeichnung für Forschung an der ETH Zürich.
Der Preisstifter studierte an der ETH Zürich Mathematik und doktorierte über Bahnberechnungen in der Raumfahrt. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University kehrte er an die ETH zurück und war von 1967 bis 1978 Senior Scientist und Lehrbeauftragter am Institut für Operations Research. Später war er in der Vermögensverwaltung tätig, ehe er sich aus dem Geschäftsleben zurückzog. 2013 wurde ihm von der ETH Zürich der Titel eines Ehrenrats verliehen.