Ein unendlicher Spass an der unendlichen Vielfalt
Dass es verschiedene Arten von Unendlichkeiten geben kann, zählt zu den grossen Rätseln der Mathematik. Ein Mathematiker, dem es Spass bereitet, herauszufinden, welche Unendlichkeiten tatsächlich vorkommen können, ist Saharon Shelah, der Gastredner der diesjährigen Paul Bernays Lectures.
Zu den erstaunlichsten Erkenntnissen der Mathematik gehört die Entdeckung, dass es verschiedene Arten von Unendlichkeiten gibt – und es war lange ein offenes Problem, ob gewisse dieser Unendlichkeiten widerspruchsfrei verschieden gross sein können.
Ein mathematischer Logiker, der sich seit Jahren intensiv damit auseinandersetzt, ist Saharon Shelah von der Hebräischen Universität Jerusalem. Als Gastredner der diesjährigen Paul Bernays Lectures wird er über aktuelle Entwicklungen im «Ringen um die Grösse des Unendlichen» berichten. Shelah ist ein ausgewiesener Kenner der mathematischen Unendlichkeitsproblematik. Vor einem Jahr gelang ihm – mit Martin Goldstern und Jakob Kellner von der externe Seite TU Wien – der Beweis, dass zehn – und nicht mehr – Unendlichkeiten verschieden gross sein können, und dass man sie ihrer Grösse nach im so genannten Cichoń-Diagramm (siehe Abbildung unten) anordnen kann.
Das war ein bahnbrechender Beweis wie die Geschichte zeigt: Die moderne, mathematische Debatte um die Unendlichkeit begann mit einer Reihe von Entdeckungen, die der deutsche Mathematiker Georg Cantor (1845-1918) in den 1870er-Jahren machte. Mit der – von ihm begründeten – Mengenlehre stellte er fest, dass man in der Mathematik viele, ja unendlich viele Unendlichkeiten unterscheiden kann. Cantor begriff die Unendlichkeit nämlich als eine Menge, die eine unendliche Anzahl von Elementen (oder Zahlen) enthält. Indem er sich an der unendlichen Menge der natürlichen Zahlen orientierte – das sind diejenigen Zahlen, die man im Alltag beim Zählen verwendet, also 1, 2, 3, 4, 5 usw. –, konnte er zeigen, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Unendlichkeit gibt.
Nämlich die «abzählbar unendlichen» Mengen, die gleich viele Elemente (oder Zahlen) haben wie die unendliche Menge der natürlichen Zahlen, und die «überabzählbar unendlichen» Mengen, die mehr Elemente enthalten. Zu der zweiten Art gehört die unendliche Menge der reellen Zahlen. Sie enthält neben ganzen Zahlen, auch negative Zahlen, Brüche, Wurzeln oder mathematische Konstanten wie π etc. Mathematiker nennen die unendliche Menge der reellen Zahlen das «Kontinuum».
Wie Cantor bewies, ist das Kontinuum tatsächlich grösser als die abzählbar unendliche Menge der natürlichen Zahlen. Diese ist ihrerseits die kleinste unendliche Menge. Er untersuchte auch, ob es zwischen den unendlichen Mengen der natürlichen und der reellen Zahlen noch eine – oder sogar mehrere –andere Arten von unendlichen Mengen geben kann. Er vermutete, dass dies nicht der Fall sei, und diese Vermutung nennt man die Kontinuumshypothese.
Aus der Vielfalt heraus das Unendliche eingrenzen
Zu seinem Leidwesen konnte er das nie beweisen – bis heute ist dieser Beweis niemandem gelungen. Im Gegenteil: Nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen die Logiker Kurt Gödel (1906–1978) und Paul Cohen (1934-2007), dass man die Kontinuumshypothese innerhalb der bekannten axiomatischen Mengenlehre weder beweisen noch widerlegen kann. Man darf sowohl annehmen, zwischen der Menge der natürlichen Zahlen und dem Kontinuum gebe es noch weitere Arten von Unendlichkeit, als auch, dass es da keine gebe. Weder die eine noch die andere Aussage widerspricht den Grundsätzen dieser Mengenlehre.
Saharon Shelah betrachtet mathematische Sachverhalte total unvoreingenommen und sieht höchst erstaunliche Zusammenhänge.Lorenz Halbeisen, Privatdozent und Logiker der ETH Zürich
Wie alle mathematischen Theorien baut die genannte Mengenlehre auf Axiomen auf. Das sind als wahr akzeptierte Grundsätze, aus denen die weiteren mathematischen Aussagen widerspruchfrei herzuleiten sind. Als Standardsystem der Mengenlehre – und damit als Grundlage der Mathematik insgesamt – hat sich das Axiomensystem ZFC etabliert, das auf Ernst Zermelo (1871–1953) und Abraham Fraenkel (1891–1965) zurückgeht. Es umfasst neun Axiome, darunter das Unendlichkeitsaxiom, dank dem man über unendliche Mengen auch Aussagen machen kann.
Die Kontinuumshypothese und die Frage, wie viele Arten von Unendlichkeit sich finden lassen, beschäftigt die Mathematik bis heute, wobei sich die Ansätze je nach philosophischer Haltung unterscheiden: So versuchen Mengentheoretiker wie Hugh Woodin, der Gastredner der Bernays Lectures 2016, die Kontinuumshypothese doch noch zu widerlegen oder zu beweisen, indem sie die ZFC-Axiome mit neuen erweitern. Woodin folgt dabei seiner Überzeugung, dass es nur ein «richtiges» Modell der Mengelenlehre geben kann.
Einen anderen, etwas «verspielteren» Ansatz verfolgt Saharon Shelah, von dem man erzählt, er liebe es, anspruchsvolle Probleme zu lösen, und der von sich selbst sagt, seine mathematikphilosophische Position sei der Hedonismus: «Mathematik macht Spass!» Shelah fragt sich weniger, ob die Kontinuumshypothese unlösbar sei, sondern er sagt sich umgekehrt, wenn sie so oder so keine Widersprüche zu den Axiomen der Mathematik auslöst, dann ist man frei davon auszugehen, dass sie nicht gilt, und anschliessend zu untersuchen, ob es zusätzliche Arten von Unendlichkeit gibt. Im Prinzip könnte es zwischen der abzählbaren Unendlichkeit und dem Kontinuum unendlich viele Unendlichkeiten geben.
Einige lassen sich ausschliessen: «Für unendliche Mengen ist jede erdenkliche Grösse möglich, die keinen Widerspruch zu den ZFC-Axiomen auslöst», sagt Lorenz Halbeisen, Privatdozent und Logiker der ETH Zürich, der mit Shelah geforscht hat. Dafür hat Shelah die so genannte Proper Forcing-Technik entwickelt. Mit dieser Methode lässt sich die ZFC-Mengenlehre um neue unendliche Mengen erweitern, und man kann sehr verschiedene Modelle von ZFC konstruieren, um damit gewisse Aussagen zu überprüfen. «Mit dieser Technik kann man sehr gut angeben, was in einem Modell jeweils möglich ist und welche Grössen man für unendliche Mengen ausschliessen kann», sagt Halbeisen.
Ein Gespür für erstaunliche Zusammenhänge
In Shelahs Ansatz ist die Grösse des Kontinuums – sprich die Anzahl von dessen Elementen – veränderbar, und das «Problem der Grösse des Kontinuums» versteht er als eine arithmetische Aufgabe, wie man mit unendlichen Zahlen überhaupt rechnen kann (schliesslich ergibt zweimal unendlich nicht automatisch doppelt unendlich). Das betrifft namentlich die Kardinalzahlen, mit denen man die Grösse unendlicher Mengen angibt (symbolisiert durch ein Aleph ℵ). Sie helfen, unendliche Mengen zu charakterisieren und ihrer Grösse nach anzuordnen. Wegweisend ist Shelahs «pcf-Theorie», mit der man neue Zusammenhänge zwischen den Kardinalzahlen und Unendlichkeiten erkennen kann.
In dem eingangs erwähnten Beweis erweiterten Shelah und seine Wiener Kollegen ZFC – unter der Annahme, dass die Kontinuumshypothese falsch sei – um vier unendliche Kardinalzahlen. So konnten sie für zehn bereits definierte Unendlichkeiten berechnen, ob sich deren Grösse unterscheidet. Ihr Beweis zeigt, dass die zehn Unendlichkeiten tatsächlich verschieden gross sind. Zudem lassen sich alle zehn Unendlichkeiten ihrer Grösse nach zwischen der abzählbaren Unendlichkeit und dem Kontinuum aufreihen. So entsteht eine Ordnung der Unendlichkeiten, die man Cichońs Diagramm nennt. Ob eine solche Ordnung der Unendlichkeiten und die Kardinalzahlarithmetik neue Einsichten in die Kontinuumshypothese zulassen, darüber wird Shelah an den Bernays Lectures vortragen.
«Der Nachweis, dass zehn Unendlichkeiten im Cichoń-Diagramm verschieden sein können, ist nicht nur bahnbrechend, sondern auch typisch für Shelah», sagt Halbeisen, «er betrachtet mathematische Sachverhalte total unvoreingenommen und sieht höchst erstaunliche Zusammenhänge. Dabei ist sein Gespür für mögliche Lösungen untrüglich.» «Shelahs Entdeckungen wurden bisher philosophisch noch wenig bedacht, sie dürften jedoch zu höchst spannenden, neuen mathematisch-philosophischen Einsichten führen», schliesst Giovanni Sommaruga, Dozent für Philosophie der Formalwissenschaften an der ETH Zürich.
Paul Bernays Vorlesungen 2020
Prof. Saharon Shelah, Hebrew University Jerusalem, Israel
«Das Ringen um die Grösse des Unendlichen»
Lecture 1:
DIE KARDINALZAHLARITHMETIK: CANTORS PARADIES
Montag, 31. August 2020, 17.00 Uhr, Webinar
Lecture 2:
WIE GROSS IST DAS KONTINUUM?
Dienstag, 1. September 2020, 14.15 Uhr, Webinar
Lecture 3:
KARDINALZAHLINVARIANTEN DES KONTINUUMS: SIND SIE ALLE UNABHÄNGIG?
Dienstag, 1. September 2020, 16.30 Uhr, Webinar
Alle Vorträge werden auf Englisch gehalten und sind in sich abgeschlossen. Lecture 1 richtet sich an ein breites, wissenschaftlich interessiertes Publikum, während sich die Lectures 2 und 3 an die Forschungsgemeinschaft wenden.
Wegen der ausserordentlichen Umstände der COVID-19 Pandemie finden die Paul Bernays Lectures 2020 als Webinar statt. Weitere Informationen.
Literaturverzeichnis
Goldstern, M, Kellner J, Shelah S. Cichoń's maximum. Annals of Mathematics, Vol. 190, No. 1 (July 2019), pp. 113-143. DOI: externe Seite 10.4007/annals.2019.190.1.2.
Eine allgemeinverständliche Darstellung dieser Publikation findet sich in den News der externe Seite Technischen Universität Wien.
Shelah, S. Proper and improper forcing. Cambridge, Cambridge University Press, 2017 (2nd ed.)
Shelah, S. Cardinal arithmetic. Oxford, Clarendon Press, 1994.
Halbeisen, L, Shelah, S. Consequences of Arithmetic for Set Theory. The Journal of Symbolic Logic, 59 (1994/ 1), Pp. 30-40. DOI: 10.3929/ethz-b-000423096; DOI: externe Seite 10.2307/2275247.