«Wissen vermitteln reicht nicht»
ETH-Forschende haben untersucht, wie sich die Bevölkerung bisher an die verordneten Corona-Massnahmen gehalten hat. Angela Bearth, eine der Studienautorinnen, erklärt im Interview, welche Schlüsse man aus dem bisherigen Daten ziehen kann und auf was es in der nächsten Zeit besonders zu achten gilt.
Frau Bearth, Sie haben zusammen mit anderen Mitgliedern der Gruppe für Consumer Behavior an der ETH Zürich das Verhalten der Deutschschweizer Bevölkerung während der Corona-Krise unter die Lupe genommen. Was genau haben Sie untersucht?
Angela Bearth: Wir haben in den letzten Monaten zwei Längsschnitt-Erhebungen gemacht: In der ersten Erhebung haben wir rund 1500 Personen zwischen 18 und 69 Jahren insgesamt vier Mal zu ihrem Verhalten während der Corona-Krise befragt. Die erste Befragung haben wir gleich zu Beginn des Lockdowns Mitte März durchgeführt, die letzte nun nach der Einführung der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. In der zweiten Erhebung haben wir rund 500 Menschen über 59 Jahre insgesamt drei Mal zu ihrem Verhalten befragt. Wir haben uns da also bewusst auf die Hauptrisikogruppe konzentriert.
Wie repräsentativ sind die beiden Gruppen?
Ich zögere etwas, die beiden Gruppen als repräsentativ zu bezeichnen, aber sie vermitteln sicher ein gutes Bild der Situation, da wir auf eine repräsentative Verteilung der Geschlechter und der Altersgruppen geachtet haben. Tendenziell sind beide Gruppen etwas besser gebildet als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Sprechen wir zunächst von den älteren Menschen. Wie gut hielten sich diese an die Empfehlungen?
Bemerkenswert ist, dass etwa 60 Prozent der älteren Menschen auch in der akuten Phase noch selber einkaufen gingen. Klar, nicht jeder hat einen netten Nachbarn, der das übernehmen kann. Aber es ist doch erstaunlich, wie wenige sich an die Empfehlung gehalten haben. Die Antworten auf die offenen Fragen bestätigen, dass sich viele ältere Menschen bevormundet fühlen, wenn sie nicht mehr selber einkaufen dürfen.
«Die Hygienemassnahmen wurden insgesamt gut eingehalten.»Angela Bearth
Wie sieht es bei den anderen Empfehlungen aus?
Die Hygienemassnahmen wurden insgesamt gut eingehalten, wobei das Risikobewusstsein bei Menschen mit einer Vorerkrankung deutlich höher ist.
Ihre Befragung zeigt auch, dass 20 Prozent der älteren Menschen ihre Enkelkinder während des Lockdowns gesehen hat. Wie ordnen Sie diese Zahl ein?
Wenn man bedenkt, dass es eine explizite Empfehlung gab, die Enkelkinder nicht zu sehen, finde ich den Wert doch recht hoch. Unsere Daten zeigen, dass die Social Distancing Massnahmen eher schwierig umzusetzen waren, zum Beispiel weil soziale Kontakte für das menschliche Wohlbefinden immens wichtig sind und ältere Menschen vielleicht weniger Möglichkeiten hatten, diese mit digitalen Kommunikationsmitteln zu kompensieren.
Sie haben vorhin erwähnt, dass die untersuchten Gruppen tendenziell höher gebildet sind. Wie würden sich die Resultate verschieben, wenn man eine durchschnittlich gebildete Gruppe befragt hätte?
Die Bildung hat einen geringeren Einfluss auf die Risikowahrnehmung als man intuitiv denkt. Das sehen wir in unseren Studien immer wieder. Denn es gibt andere psychologische Mechanismen, die dem Faktenwissen entgegenwirken. Dazu gehören zum Beispiel trivialisierende Einschätzungen: Man hält sich für weniger gefährdet, weil man gesund lebt oder das eigene Immunsystem für stark hält. Man versucht so, die innere Spannung aufzulösen, die durch gefährdendes Verhalten entstehen kann, obwohl man weiss, wie man sich schützen kann.
Das Vermitteln von Hintergrundwissen bringt also gar nicht viel?
So würde ich das nicht sagen. Aber Wissen vermitteln alleine reicht einfach nicht. Das sieht man zum Beispiel beim Thema Rauchen sehr gut.
Ihre Zahlen zeigen, dass bemerkenswert viele Menschen – über 40 Prozent – denken, sie seien weniger gefährdet als der Durchschnitt, obwohl das Virus ja alle gleichermassen bedroht. Hingegen denken nur etwa 10 Prozent, sie hätten ein höheres Risiko, angesteckt zu werden.
Der «optimistische Bias», wie er in der Psychologie genannt wird, könnte hier eine Rolle spielen. Man ist überzeugt, man sei von einer Krankheit weniger betroffen als der Durchschnitt – obwohl es ja einen Grund gibt, warum es diesen Durchschnitt gibt.
Kommen wir zur Maskenfrage. Was können Sie dazu sagen?
Wir haben das Thema erst in der vierten Befragung differenzierter angeschaut. Bei den meisten Argumenten antworten Maskenträger und Nicht-Maskenträger ungefähr ähnlich. So finden zum Beispiel beide Gruppen gleich häufig, es sei im Sommer unangenehm, eine Maske zu tragen. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Nicht-Maskenträger viel häufiger als die Maskenträger denken, Masken seien nicht wirksam, und sie sind auch eher überzeugt, eine Maskenpflicht sei angesichts der tiefen Fallzahlen überflüssig.
Rächt sich hier also die unglückliche Kommunikation zu Beginn der Krise?
Ich vermute, ja. Wir wissen aus anderen Befragungen, dass Forschung bei den Schweizerinnen und Schweizern einen hohen Stellenwert hat. Wenn man am Anfang der Krise argumentiert, Masken seien aus Sicht der Wissenschaft unwirksam, dann bleibt das hängen.
Dennoch tragen im ÖV jetzt fast alle eine Maske.
Ja, weil es eine Regel ist, an die sich nun viele halten. Wir sprechen da von einer sozialen Norm: Menschen beobachten, wie sich die anderen verhalten, und passen sich entsprechend an. Den meisten Menschen ist es unangenehm, wenn sie in der Menge auffallen. Vor der Einführung der Maskenpflicht fielen die Maskenträger auf, nun sind es die Nicht-Maskenträger.
Die neue Norm hat sich also durchgesetzt?
Das ist schwer zu sagen. Mit einer Maske schütze ich mich ja nicht nur selber, sondern vor allem auch die anderen. Die altruistische Haltung ist: Ich trage eine Maske, um andere Menschen zu schützen, auch wenn ich selber nicht so viel davon habe. Die eher egoistische ist: Warum soll ich eine Maske tragen, wenn ich selber kaum etwas davon habe? Aus der Theorie lässt schwer voraussagen, welche Sichtweise sich durchsetzen wird.
Was vermuten Sie?
Ich bin skeptisch, ob wir uns auf den Altruismus verlassen dürfen. Unsere Daten zeigen nämlich, dass die Nicht-Maskenträger stärker überzeugt sind als die Maskenträger, dass sie mit der Maske primär die anderen schützen. Sie sehen den Nutzen für sich also weniger. Das erklärt vielleicht auch, warum so viele Menschen die Maske nicht korrekt tragen.
«Ich bin skeptisch, ob wir uns auf den Altruismus verlassen dürfen.»Angela Bearth
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich nun aus diesen Erkenntnissen?
Schwierig wird vor allem sein, das Risikobewusstsein aufrechtzuerhalten. Wie gesagt, Wissen vermitteln reicht dazu nicht. Menschen machen Erfahrungen, und diese spielen ebenfalls eine Rolle. Wer immer wieder im Zug reist, in Restaurants isst und in Clubs geht, ohne dass etwas passiert, wähnt sich schnell einmal sicher, obwohl das trügerisch ist.
Das scheint gerade bei den Jungen der Fall zu sein. Können Sie verstehen, dass sich die Älteren über die jungen Clubgänger ärgern?
Das ist ein kritischer Punkt. Wenn sich nun feste Gruppen bilden – also «die Jungen» gegen «die Alten» –, dann wird es schwierig mit der gegenseitigen Rücksichtnahme. Unsere Daten zeigen übrigens: Die 20- bis 34-Jährigen tragen eher eine Maske als die 35- bis 49-Jährigen. Das scheint also die Altersgruppe zu sein, die am sorglosesten ist…
Sie haben die Befragung in der Deutschschweiz durchgeführt. Kann man Ihre Ergebnisse auf die anderen Landesteile übertragen?
Bei vielen Themen stimmt die Risikowahrnehmung in den verschiedenen Landesteilen gut überein. In diesem Fall lassen sich die Resultate aber schwieriger übertragen, weil die Erfahrungen in der Westschweiz und im Tessin doch anders waren als in der Deutschschweiz.
In der Wissenschaft ist es üblich, Erkenntnisse erst zu kommunizieren, wenn sie in einem Peer-Review-Verfahren überprüft wurden. Gleichzeitig möchte die Öffentlichkeit Erkenntnisse möglichst schnell erfahren. Wie gehen Sie mit diesem Widerspruch um?
Wir haben bis jetzt gezögert, über unsere Resultate öffentlich zu sprechen, weil wir sie gerne zuerst mit Fachkollegen diskutieren wollten und sie eben den Peer-Review-Prozess noch nicht durchlaufen haben. Gleichzeitig sehen wir aber, dass sich die Situation sehr schnell ändern kann und dass es daher wichtig wäre, unsere Ergebnisse möglichst schnell zugänglich zu machen. Das ist ein Dilemma, mit dem wir leben müssen.