Ja, wir sind besorgt
Klimaaktivisten wurden gestern in zweiter Instanz verurteilt. Sonia Seneviratne erklärt, warum bei diesem Prozess auch Klimaforschende eine Rolle spielten und sich in einem Brief öffentlich äusserten.
Im Januar sorgte ein Urteil des Bezirksgerichts in Renens bei Lausanne weltweit für Aufsehen: Es sprach 12 Klimaaktivisten frei, die im November 2018 in einer Filiale der Credit Suisse Tennis gespielt hatten. Ihr illegales, aber gewaltfreies Vorgehen nahm Bezug auf den Tennisprofi Roger Federer, der von der Grossbank gesponsert wird. Die Aktivisten wollten darauf aufmerksam machen, dass die Credit Suisse seit der Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens im Dezember 2015 weiterhin erhebliche Investitionen in fossile Brennstoffe getätigt und damit zur Verschärfung der Klimakrise beigetragen hat1. Die erste Instanz folgte den 13 Anwälten, welche die Aktivisten pro bono verteidigten und argumentierten, dass diese aus einem Notstand («état de nécessité») heraus gehandelt hätten, in dem eine Person gezwungen ist, das Gesetz zu brechen, um ein höheres Gut zu schützen.
Ich habe diesen Prozess hautnah miterlebt – als eine von zwei wissenschaftlichen Gutachtern, die als Zeugen an den Prozess geladen wurden. In dieser Funktion sagte ich während mehr als einer Stunde zum IPCC-Sonderbericht über eine Erwärmung von 1,5 Grad aus, bei dem ich als Hauptautorin mitgewirkt hatte2. Ich stellte fest, dass der Einzelrichter meiner Aussage grosse Aufmerksamkeit schenkte. Er erwähnte bei seinem Urteil, dass diese Zeugenaussage und die im IPCC-Bericht erwähnte Evidenz das Gericht überzeugt hätten ("ont emporté la conviction du tribunal").
Der Generalstaatsanwalt des Kantons Waadt, der am ersten Prozess nicht teilgenommen hatte, war jedoch weit weniger überzeugt. Seiner Ansicht nach konnte man in diesem Fall keinen solchen Notstand geltend machen. Er legte deshalb Berufung ein. Interessanterweise stützte er sich in dieser auch auf eine meiner Aussagen, nämlich, dass ich nicht sagte, dass überhaupt nichts geschehe, denn es gebe durchaus einige positive Entwicklungen. Das war natürlich sehr selektiv, denn im Rest meiner Erklärung habe ich sehr deutlich gemacht, dass seit der Verabschiedung des Pariser Abkommens zu wenig Fortschritte gemacht worden sind, und dass die erwähnten Fortschritte keinesfalls dem entsprechen, was im Abkommen vereinbart worden war.
Grössere Tragweite des Prozesses
Der Fall wurde diese Woche in zweiter Instanz vor dem Waadtländer Kantonsgericht verhandelt. Das Urteil wurde gestern verkündet, die Klimaaktivisten wurden zu Bussen verurteilt, zum Teil auf Bewährung. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Fall bis ans Bundesgericht weitergezogen wird. Nach Ansicht der Anwälte der Verteidigung spielt in diesem Berufungsprozess die wissenschaftliche Evidenz eine wichtige Rolle. Es wurden aber keine Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler als Zeugen beim Prozess eingeladen. Die Anwälte wandten sich daher mit einer Reihe von Fragen an mich und an weitere Wissenschaftler, mit der Bitte, diese schriftlich zu beantworten, damit diese vor Gericht verwendet werden können.
Als Team von acht Wissenschaftlern haben wir ein Statement formuliert3, um noch einmal den Stand der Klimawissenschaft und die Dringlichkeit klimapolitischen Handelns zusammenzufassen. Zu den weiteren Autoren gehörte auch Thomas Stocker, Professor an der Universität Bern und ehemaliger Co-Vorsitzender der IPCC-Arbeitsgruppe 1. Weitere Schweizer und internationale Klimaexperten haben das Statement anschliessend mitunterzeichnet, darunter mehrere meiner Kollegen an der ETH Zürich (David Bresch, Andreas Fischlin, Nicolas Gruber, Reto Knutti, Christoph Schär und Heini Wernli).
«Vielleicht tragen Gerichtsverhandlungen wie diese zu einem gesellschaftlichen Diskurs über die Dringlichkeit des Handelns bei.»Sonia Seneviratne
Es könnte der Eindruck entstehen, dass wir durch die Zusammenarbeit mit der Verteidigung in diesem Prozess Partei genommen hätten. Dessen bin ich mir bewusst. Doch in diesem Prozess ging es um mehr als nur die juristische Klärung einer illegalen Aktion. Ob sich solche Aktionen mit Bezug auf die Dringlichkeit klimapolitischen Handelns rechtfertigen lassen, ist eine Frage, welche die Gerichte beantworten müssen, und zu der ich mich hier nicht äussern möchte.
Im Prozess ging es aber auch um die Frage, inwieweit es sich bei der Klimakrise um ein absolut vordingliches Problem handelt, das mit einem Notstand gleichzusetzen ist. Als Klimaforschende war es uns ein Anliegen, in diesem wichtigen Fall dem Gericht unsere Expertise zur Verfügung zu stellen. Wie ernst die Lage momentan ist, ist ein Punkt, der von der Klimawissenschaft beantwortet werden muss. In seinem Urteil hat das Gericht gestern denn auch anerkannt: Der Klimawandel stellt eine drohende Gefahr dar.
Kluft zwischen Verpflichtung und Bereitschaft
Sind wir als Klimaforschende besorgt? Ja, das sind wir. Die globale Erwärmung, welche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen schon vor mehreren Jahrzehnten erwartet hatten4, können wir alle bereits beobachten. Seit dem und trotz des Pariser Abkommens von 2015 bleiben grössere Reduktionen der globalen CO2-Emissionen aus, und es sind keine substanziellen Fortschritte bei der Lösung des Klimaproblems erzielt worden. Stattdessen nehmen die Risiken schwerer und zum Teil irreversibler Klimaauswirkungen zu. Und vor allem realisieren wir, dass eine Kluft besteht zwischen den im Pariser Abkommen eingegangenen Verpflichtungen und der Fähigkeit und Bereitschaft der Entscheidungsträger, diese auch tatsächlich umzusetzen, was unsere Besorgnis noch verstärkt.
Viele Menschen, vor allem junge, sind der Meinung, dass die Wissenschaft derzeit zu wenig Gehör findet, und sie ergreifen Massnahmen, um auf diese Tatsache aufmerksam zu machen. Vielleicht tragen Gerichtsverhandlungen wie diese zu einem gesellschaftlichen Diskurs über die Dringlichkeit des Handelns bei.