Ein neuer Blick auf das Innere der Erde

Nach gängiger Lesart ist der Erdmantel chemisch relativ gleichmässig aufgebaut. Experimente von ETH-Forschern zeigen nun, dass diese Vorstellung wohl zu simpel ist. Die Resultate lösen ein wichtiges Problem der Erdwissenschaften – und werfen neue Fragen auf.

Impression aus dem Hochdrucklabor
Mit einer aufwendigen Versuchsanordnung untersuchen die ETH-Forschenden das Verhalten der Gesteine tief im Erdinnern. Die Probe befindet sich im Block in der Mitte des Bildes. (Bild: M. Murakami, ETH Zürich)

Es gibt Orte, die bleiben für uns Menschen immer unerreichbar. Dazu gehört das Innere der Erde. Dennoch gibt es Möglichkeiten, sich ein Bild von dieser unbekannten Welt zu machen. So setzt beispielsweise die Ausbreitungsgeschwindigkeit von seismischen Wellen wichtige Leitplanken, wie die Erde strukturiert ist und welche physikalischen Eigenschaften die Materialien in der Tiefe haben. Ausserdem geben vulkanische Gesteine, die an einzelnen Stellen tief aus der Erde an die Oberfläche gelangen, wichtige Hinweise auf die chemische Zusammensetzung des Erdmantels. Und schliesslich ermöglichen Laborexperimente, die Bedingungen im Erdinnern im kleinen Massstab zu simulieren.

Wie aufschlussreich solche Experimente sind, zeigt eine neue Publikation, die Motohiko Murakami, Professor für experimentelle Mineralphysik, mit seinem Team soeben in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht hat. Die Resultate der Forscher lassen den Schluss zu, dass das Bild, das sich viele Erdwissenschaftler vom Inneren der Erde machen, möglicherweise zu simpel ist.

Sprunghafte Änderung

Unter der dünnen Erdkruste, die nur einige wenige Kilometer dick ist, der Erdmantel, der ebenfalls aus Gesteinen besteht. Dieser umschliesst den Erdkern, der in einer Tiefe von 2900 Kilometern beginnt. Aufgrund der seismischen Signale weiss man, dass in es im Erdmantel in einer Tiefe von ca. 660 Kilometern einen markanten Übergang gibt: Die Gesteine im oberen Mantel über dieser Grenze weisen andere mechanische Eigenschaften auf als der darunterliegende untere Erdmantel, und deshalb ändert sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit der seismischen Wellen an dieser Grenze sprunghaft.

Unklar ist, ob es sich hierbei nur um eine physikalisch bedingte Grenze handelt oder ob sich auch die chemische Zusammensetzung der Gesteine ändert. Viele Erdwissenschaftler gehen davon aus, dass der Erdmantel als Ganzes eine relativ homogene Zusammensetzung hat und aus magnesiumreichen Gesteinen besteht, die eine ähnliche Zusammensetzung haben wie die Peridotit-Gesteine, die man an der Erdoberfläche findet. Diese Boten aus dem oberen Mantel werden beispielsweise von Vulkanen an die Erdoberfläche gefördert und weisen ein Magnesium-Silizium-Verhältnis von ca. 1,3 auf.

«Die Vermutung, der Erdmantel sei mehr oder weniger homogen aufgebaut, beruht auf einer relativ simplen Annahme», erklärt Murakami. «Nämlich, dass der Erdmantel durch die gewaltigen Konvektionsströme, die auch die Bewegungen der Erdplatten an der Erdoberfläche verursachen, immer wieder durchmischt. Doch das ist möglicherweise zu einfach gedacht.»

Wo ist das Silizium?

Tatsächlich gibt es bei dieser Annahme ein fundamentales Problem. Man geht davon aus, dass die Erde vor rund 4,5 Milliarden Jahren durch das Zusammenballen von Meteoriten entstand und daher insgesamt die gleiche Zusammensetzung aufweist, wie die Meteorite, die aus dem ursprünglichen solaren Nebel entstanden. Die Differenzierung der Erde in Kern, Mantel und Erdkruste folgte dann in einem zweiten Schritt.

Zieht man nun das Eisen und den Nickel ab, die sich heute im Erdkern befinden, zeigt sich, dass der Erdmantel eigentlich viel mehr Silizium aufweisen sollte als die Peridotit-Gesteine. Basierend auf dieser Kalkulation sollte der Erdmantel ein Magnesium-Silizium-Verhältnis von ungefähr 1 haben – und nicht 1,3.

Für die Erdwissenschaftler stellt sich daher die Frage: Wo befindet sich das fehlende Silizium? Auch dazu gibt es eine naheliegende Antwort: Im Erdmantel hat es so wenig Silizium, weil es sich im Erdkern befindet. Doch Murakami kommt zu einem anderen Schluss: Das Silizium befindet sich im unteren Erdmantel. Dieser hätte somit eine andere Zusammensetzung als der obere Erdmantel.

Verwinkelte Argumentation

Murakamis Argumentation ist etwas verwinkelt: Erstens weiss man heute recht genau, wie schnell sich seismische Wellen im Erdmantel ausbreiten. Aus Laborexperimenten weiss man zweitens, dass der untere Erdmantel im Wesentlichen aus dem siliziumhaltigen Mineral Bridgmanit und dem magnesiumreichen Mineral Ferroperiklas besteht. Drittens weiss man, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit der seismischen Wellen von der Elastizität der Mineralien abhängt, aus denen die Gesteine bestehen.

Kennt man also die elastischen Eigenschaften der beiden Mineralien, kann man berechnen, welches Mischverhältnis der beiden Mineralien mit der beobachteten Ausbreitungsgeschwindigkeit der seismischen Wellen übereinstimmt. Und daraus kann man dann ableiten, welche chemische Zusammensetzung der untere Erdmantel haben muss.

Während die elastischen Eigenschaften von Ferroperiklas bekannt sind, ist dies bei Bridgmanit noch nicht der Fall. Dies liegt daran, dass die Elastizität dieses Minerals stark von seiner chemischen Zusammensetzung abhängt. Je nachdem, wie viel Eisen im Bridgmanit eingebaut ist, verändert sich die Elastizität dieses Minerals.

Aufwändige Messungen

Murakami hat nun in seinem Labor Hochdruckexperimente mit diesem Mineral durchgeführt und dabei mit unterschiedlichen Mischungen experimentiert. In einem ersten Schritt haben die Forscher eine kleine Probenmenge zwischen zwei Diamantspitzen eingeklemmt und diese dann durch eine spezielle Vorrichtung gegeneinander gedrückt. Dadurch wird das Probenmaterial einem extrem hohen Druck ausgesetzt, so wie er auch im unteren Erdmantel herrscht.

Probebehälter Hochdruckexperimente
In der Mitte dieses Probebehälters befinden sich die Diamanten, welche die Probe zusammenpressen. Durch Anziehen der Schrauben entsteht ein Druck, wie er im Bereich des unteren Erdmantels herrscht. (Bild: M. Murakami, ETH Zürich)
Diamantspitzen
Die Gesteinsproben werden während des Versuchs zwischen zwei Diamantspitzen eingeklemmt. Die Spitzen der Diamanten sind ca. 0,1 Millimeter gross. (Bild: M. Murakami, ETH Zürich)

In einem zweiten Schritt haben die Forscher Laserlicht auf die Probe geschickt und anschliessend auf der anderen Seite das Wellenspektrum des gestreuten Lichts gemessen. Aus den Verschiebungen im Wellenspektrum konnten sie ermitteln, wie elastisch sich das Mineral bei den entsprechenden Druckverhältnissen verhält. «Die Messungen waren sehr aufwendig», berichtet Murakami. «Da Bridgmanit mit zunehmendem Eisengehalt weniger lichtdurchlässig wird, benötigten wir jeweils bis zu fünfzehn Tage für eine einzelne Messung.»

Das Silizium ist gefunden

Basierend auf den ermittelten Werten hat Murakami dann modelliert, welche Zusammensetzung am besten mit der Ausbreitung der seismischen Wellen übereinstimmt. Die Ergebnisse bestätigen seine These, dass der untere Erdmantel anders aufgebaut ist als der obere. «Wir gehen davon aus, dass dieser Bereich der Erde aus 88 bis 93 Prozent Bridgmanit besteht», meint Murakami. «Der untere Erdmantel hat also ein Magnesium-Silizium-Verhältnis von etwa 1,1.» Das Rätsel des fehlenden Siliziums ist nach Murakami Auffassung also gelöst.

Doch die Resultate werfen auch neue Fragen auf. Man weiss zum Beispiel, dass bei einzelnen Subduktionszonen die Erdkruste tief in den Erdmantel geschoben wird, teilweise sogar bis an die Grenze zum Erdkern. Der obere und untere Erdmantel sind also nicht per se hermetisch separierte Gebilde. Wie die beiden Bereiche miteinander wechselwirken und wie die Dynamik im Erdinneren genau funktioniert, damit am Ende chemisch unterschiedliche Mantelbereiche entstehen, ist nach wie vor unklar.

Literaturhinweis

Mashino I, Murakami M, Miyajima N, Petitgirard S: Experimental evidence for silica-enriched Earth's lower mantle with ferrous iron dominant bridgmanite. PNAS, 19. Oktober 2020, doi: externe Seite 10.1073/pnas.1917096117.

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