«Wichtig ist, dass wir uns jetzt auf den Weg machen.»

Mit dem Handeln tun sich Gesellschaft und Politik schwer, wenn es um den Klimawandel geht. Was tun? Der Klimaforscher Reto Knutti und Marie-Claire Graf von der Klimastreikbewegung im Gespräch.

Zwei Personen
Marie-Claire Graf und Reto Knutti. (Bild: Daniel Winkler)

Herr Knutti, Sie sind Wissenschaftler, müssen sich derzeit aber auch oft im gesellschaftspolitischen Kontext äussern. Wie sehen Sie Ihre Rolle?
Reto Knutti: Ich könnte einfach still sein und forschen und lehren. Aber so verstehe ich meinen Auftrag nicht. Die ETH ist von den Steuerzahlenden finanziert und wenn die ETH etwas herausfindet, das für die Steuerzahlenden relevant ist, haben wir eine Verantwortung, das auch öffentlich zu sagen, insbesondere, wenn es um eine potenzielle Gefahr geht.

Wo hört die Wissenschaft auf und wo beginnt die Politik?
Knutti: Das ist immer eine Gratwanderung. Nur Zahlen liefern macht keinen Sinn. Zahlen brauchen immer einen Kontext. Diese Einordnung ist zwingend nicht mehr rein wissenschaftlich. Die Idee, dass man die pure Wissenschaft vollständig trennen kann von der gesellschaftlichen oder politischen Situation, funktioniert nicht. Man muss aber die Annahmen und die Werturteile, die eingehen, wenn man diese Zahlen interpretiert, klarstellen.

Frau Graf, Sie sind stark engagiert in der Klimastreikbewegung. Wie definieren Sie Ihre Rolle in der Klimadebatte?
Marie-Claire Graf: Ich sehe mich einerseits als Studentin, die sich neues Wissen aneignet. Aber wir haben darüber hinaus eine weitere Verantwortung, vor allem wenn wir wissen, was die Fakten sind, und sehen, dass nicht entsprechend gehandelt wird. Deshalb war für viele junge Menschen – mich eingeschlossen – klar, dass wir eine Bewegung brauchen, die vereinbarte Klimaziele wirklich einfordert. Ich sehe mich auch als Brückenbauerin. Es geht mir darum, mein akademisches Wissen in politische Forderungen zu übersetzen und diese auch in eine Druckbewegung überzuleiten. Dazu braucht es ein Bündel von Strategien. Es braucht Streiks und den zivilen Ungehorsam, um die verhärteten Strukturen aufzurütteln, es braucht aber auch diplomatische Gespräche.

 

«Wir brauchen eine Bewegung, die vereinbarte Klimaziele auch wirklich einfordert.»Marie-Claire Graf

Wie reagieren Sie als Wissenschaftler auf die Klimastreikbewegung und ihre Forderungen?
Knutti: Wir Klimawissenschaftler haben uns klar und prominent geäussert: Mehrere tausend Unterschriften haben bezeugt, dass die Fakten, die die junge Generation auf den Tisch legt, korrekt sind. Ihre Besorgnis ist gerechtfertigt. Das heisst nicht, dass wir den Streik und den zivilen Ungehorsam als Form unterstützen, aber wir verurteilen ihn auch nicht. Hier kann jede und jeder selbst entscheiden, ob das für ihn geeignete Mittel sind. Ich persönlich werde nicht auf den Bundesplatz gehen und mich anketten. Das wäre nicht meine Rolle.

Aus Sicht der Klimastreikbewegung: Engagieren sich die Klimawissenschaften öffentlich genügend?
Graf: In Bezug auf die Kommunikation könnten die Hochschulen noch mehr leisten. Aber es ist auch klar, dass ihre Rolle als Forschende und ihre Glaubwürdigkeit darunter nicht leiden dürfen. Die Kommunikation wissenschaftlicher Fakten ist enorm wichtig, um Leute in der Politik zum Handeln zu bewegen.

Hat das auch Ihre Studienwahl beeinflusst?
Graf: Ich habe zunächst ein Umweltstudium an der ETH begonnen. Wir haben dort sehr viele Fakten gelernt, aber ich empfand die Haltung gegenüber den dahinterstehenden Krisen als sehr distanziert. Deshalb habe ich in die Politikwissenschaft gewechselt, um zu lernen, wie man Lösungen implementieren kann, um die nötige Transformation zu beschleunigen. Das sollte auch in anderen Studiengängen noch viel mehr einbezogen werden, denn schliesslich brauchen wir eine Gesellschaft, in der sich alle einbringen.

Handeln ist immer auch eine politische Frage: Sind demokratische Strukturen geeignet, um 
ein Problem wie den Klimawandel anzugehen?
Knutti: Wir müssen einen Prozess einleiten, den wir über Jahrzehnte gemeinsam gestalten müssen. Er muss von der Bevölkerung mitgetragen werden und dafür braucht es zwingend den demokratischen Prozess.
Graf: Demokratie ist für diese Anliegen enorm wichtig. Man hat zum Beispiel gesehen, dass BürgerInnenversammlungen oft viel weitreichendere Massnahmen vorgeschlagen haben als die Regierungen. Es gibt wissenschaftliche Studien, die zeigen: Wenn die Leute wissen, in was für einer Krise wir stecken, dann sind sie auch gewillt zu handeln.
Knutti: Es gibt allerdings auch namhafte Studien, die zeigen, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen Faktoren wie Intelligenz, Bildung und der Besorgnis über den Klimawandel. Leute, die mehr wissen, sind nicht per se besorgter über den Klimawandel. Es scheint eine Frage von persönlichen Prioritäten, von politischen Anschauungen und von Werten und Weltanschauungen zu sein. Aber man hat in Studien in den USA auch gezeigt, dass es in der Mitte zwischen denjenigen, die wegen des Klimawandels besorgt sind, und denjenigen, die den Klimawandel nicht sehen wollen, ein relativ grosses Feld von Menschen gibt, die uninformiert oder im Zweifel sind. Und hier können Fakten durchaus Potenzial entfalten.

Derzeit hält uns die Coronakrise in Atem. Kann man aus dieser Krise etwas für den Umgang mit dem Klimawandel lernen?
Knutti: Es gibt offensichtliche Parallelen. Beides ist am Anfang etwas Abstraktes, Unverstandenes. Es ist weit weg und man sieht vielleicht die Bedrohung nicht. Bei beiden Problemen lohnt es sich aber, früh zu handeln. Wenn man die Fakten ernst nimmt, dann ist man besser dran. Wer abwartet, den trifft es hart. Bei beiden Problemen ist es zudem so, dass man das Resultat des Handelns nicht sofort sieht, die Situation einem aber um die Ohren fliegen kann, wenn man zu spät handelt. Es gibt aber auch einen grossen Unterschied: die Zeitskala. Wir sterben nicht gleich morgen wegen des Klimawandels. Das macht es einfacher, das Ganze zu verdrängen.
Graf: Hilfreich war bei Corona sicher auch, dass die Situation sehr früh offiziell als Krise anerkannt wurde, durch die WHO und dann auch von vielen Staaten. Es konnten Gelder gesprochen und neue politische Wege beschritten werden. Beim Klimawandel ist diese offizielle Anerkennung als Krise noch nicht wirklich erfolgt. Eine zentrale Forderung des Klimastreiks ist, dass der Klimawandel mit dem Klimanotstand als Krise anerkannt wird.
Knutti: Wenn man den Notstand interpretiert als «Wir haben ein dringendes Problem, das wir jetzt anpacken müssen», dann würde ich das im Sinne eines politischen Statements unterschreiben. Den Notstand im rechtlichen Sinn sehe ich nicht gerechtfertigt. Denn der Klimawandel ist weder eine Situation, die nicht vorhersehbar war, noch ist er eine Situation, die innerhalb kurzer Zeit gelöst werden kann. Wir können den Klimawandel mit den etablierten politischen Prozessen lösen. Aber wir müssen wesentlich schneller griffigere Massnahmen umsetzen als bisher.
Graf: Wir fordern keinen rechtlichen Notstand, sondern eine Anerkennung der Krise, damit diese als Krise angegangen werden kann.

Hat die Coronakrise der Klimadiskussion geschadet?
Knutti: Kurzfristig sicher. Aber das Thema Klimawandel ist nicht ganz von der Agenda verschwunden – schliesslich hat das Parlament im Herbst das CO2-Gesetz verabschiedet. Dazu kommt, dass wir aus der Coronakrise auch lernen könnten, dass man Dinge tun kann, die man vorher nicht für möglich gehalten hat. Es braucht aber den politischen Willen dafür.
Graf: Corona hat unsere Pläne brutal durchschnitten, weil wir uns auch hier verantwortungsbewusst, wissenschaftsbasiert und solidarisch verhielten. Aber nicht nur bei den Klimastreiks hat uns das stark behindert. Ich war als Teil der Schweizer Delegation letzten Dezember an der 25. Weltklimaverhandlung. Dieses Jahr hätten wir ebenfalls entscheidende Verhandlungen gehabt, die nun alle verschoben wurden. Dabei hat man immer gesagt: 2020 wird «the year to act». Wir haben auch auf dem grossen internationalen Parkett viel an Momentum verloren.
Knutti: Es könnte auch der Gedanke aufkommen, jetzt müssen wir zuerst der Wirtschaft helfen, da können wir uns nicht auch noch um Umweltschutz kümmern. Man hat aber wissenschaftlich gezeigt, dass Wirtschaft und Klimaschutz kein Gegensatz sind – sondern dass es auch hier langfristig günstiger kommt, wenn man das Problem löst, als wenn man zuwartet.

Wie reagiert die Wirtschaft?
Knutti: Anfragen aus der Wirtschaft haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Banken, Finanzdienstleister, selbst grosse, eher traditionell aufgestellte Firmen sagen ganz klar: Wir müssen uns mit dem Klimawandel auseinandersetzen. Diese Firmen erkennen, dass sie möglicherweise betroffen sind von zunehmenden Risiken, von sich änderndem Kundenverhalten und neuen Ansprüchen, von Haftungsfragen und mehr. Und sie sehen Chancen für Innovationen.
Graf: Banken haben bemerkt, dass sie reagieren müssen, auch weil viele junge Leute sagen: Ich will kein Konto bei einer Bank, die nicht nachhaltig ist. Oft reagieren die Banken aber nur vordergründig. Nötig wäre ein kompletter Wandel von einem destruktiven Businessmodell, das auf Ausbeutung der natürlichen Ressourcen basiert, hin zu einem Businessmodell, das in sich nachhaltig und solidarisch ist. Und da gibt es noch viel zu tun. Das Problem ist, dass wir wissenschaftlich gesehen nur noch etwa zehn Jahre Zeit haben, um das 1,5-Grad-Ziel mit einer moderaten Wahrscheinlichkeit zu erreichen.
Knutti: Zugegeben – wir sind noch längst nicht so weit in Sachen Kreislaufwirtschaft, wie wir sein müssten. Aber der entscheidende positive Schritt ist, dass Teile der Wirtschaft nicht mehr gegen die Forschung argumentieren, sondern dass sie sagen: «Das Netto-Null-Ziel ist im Prinzip klar, wir richten uns in dieser Richtung aus.» Viele plädieren sogar dafür, dass die Politik klare Vorgaben und Rahmenbedingungen setzen soll.

Sind Sie optimistisch, dass wir es schaffen?
Knutti: Das 2-Grad-Ziel ist technisch machbar und wirtschaftlich bezahlbar. Was das 1,5-Grad-Ziel angeht, bin ich eher skeptisch. Die Reduktionsraten, die dafür nötig wären, sind so hoch, dass es mit dem heutigen System und dem Stand des Wissens schwer zu vereinbaren ist. Aber für mich ist das die falsche Frage. Entscheidender ist: Wie fangen wir an? Das Wichtigste ist doch, dass wir uns überhaupt auf den Weg machen. Natürlich werden wir dabei auch Fehler machen, aber wir werden auch lernen und es besser machen. Erst losgehen, wenn wir einen Masterplan für die nächsten 30 Jahre haben, halte ich für sinnlos.
Graf: Ich bin sehr optimistisch. Vielfach fehlt es einfach noch am politischen Willen. Corona hat aber gezeigt, dass wir schnell handeln können, wenn wir erkannt haben, dass es darauf ankommt.
Knutti: Wir sollten nicht nur das Problem sehen, sondern eine Vision entwickeln, wo wir hinwollen. Den Jungen ist es mit der Klimastreikbewegung gelungen, das Thema für sich positiv aufzunehmen und viele Menschen zu begeistern. Wenn es uns gelingt, diese Vision gemeinsam zu entwickeln, dann bin ich optimistisch.

Dieser Text ist in der Ausgabe 20/04 des ETH-Magazins Globe erschienen.

Zu den Personen

Reto Knutti ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich, Autor von Berichten des IPCC und engagiert sich bei der Vermittlung von Klimawissen an die Öffentlichkeit.

Marie-Claire Graf engagiert sich in der Klimastreikbewegung und gehört zur Schweizer Delegation der Weltklimaverhandlungen der Uno.

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