Lockdowns: Ein Dilemma für die Ärmsten in Afrikas Städten
Eine Studie in Südafrika und Ghana zeigt: Obschon die Covid-19-Massnahmen der Regierung meist befürwortet werden, fehlen häufig Infrastruktur und finanzielle Sicherheit, um Social Distancing einzuhalten.
Als am 27. März in Südafrika einer der weltweit strengsten Lockdowns verhängt wurde, war Antoinette Van der Merwe gerade zu Besuch bei ihrer Familie in Pretoria. Aktivitäten im Aussenraum wurden komplett verboten, nur noch Mitarbeitende in essentiellen Industrien, wie der Nahrungs- und Energieversorgung, durften zur Arbeit, die Flugzeuge blieben am Boden. «In den ersten drei Wochen ging ich ein einziges Mal aus dem Haus, um kurz einzukaufen», erzählt die Doktorandin an der Professur für Entwicklungsökonomie am NADEL der ETH Zürich. Als sie realisierte, dass eine baldige Rückreise nach Zürich unmöglich war, machte sie aus der Not eine Tugend: Als Entwicklungsökonomin sah sie eine einmalige Chance mehr darüber zu erfahren, welche Auswirkungen die Pandemie und ein strikter Lockdown auf die ärmsten städtischen Haushalte in Afrika haben.
Gemeinsam mit Kollegin Kathrin Durizzo entwarf sie ein Studiendesign, um die Situation in Südafrika mit derjenigen in Ghana zu vergleichen. Durizzo forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit zum Gesundheitssystem in Ghana. Über die Forschungspartner an den Universitäten von Pretoria und Ghana erhielten die Forscherinnen Zugang zu Telefonnummern von Bewohnerinnen und Bewohnern in Johannesburg und Accra. Beide Städte verzeichneten im April im innerafrikanischen Vergleich die höchsten Covid-19-Ansteckungszahlen. Van der Merwe und Durizzo konzentrierten sich auf Stadtviertel, die für einen hohen Anteil armer Haushalte bekannt sind.
Fehlende Infrastruktur für Social Distancing
Die Studie, basierend auf 409 Telefoninterviews in Johannesburg und 1034 in Accra, bestätigt Forschung in anderen Ländern: Die Lockdowns aufgrund der Covid-19-Pandemie betreffen armutsbetroffene Familien im globalen Süden besonders hart. Für viele Befragte bedeutete der Lockdown sofortiger Arbeitsverlust bei gleichzeitig steigenden Lebensmittelpreisen. 67 Prozent der befragten Selbstständigen in Südafrika und 86 Prozent in Ghana mussten ihr Geschäft wegen des Lockdowns schliessen – ohne jegliche finanzielle Kompensation. Sie und Tagelöhner, die sich im informellen Sektor durchschlagen, sind zum Überleben darauf angewiesen, das Haus zu verlassen und mit dem öffentlichen Verkehr – oft in überfüllten Minibussen – zur Arbeit zu pendeln. Trotzdem hielt sich die Mehrheit an den strikten Lockdown. Rund 30 Prozent der Befragten gaben jedoch an, sich nach wie vor in grösseren Menschenmengen zu bewegen, 20 Prozent empfingen weiterhin Leute zuhause und 30 Prozent verliessen das Haus mehr als einmal pro Woche. Das lag nicht an mangelhafter Information. Die meisten konnten sich ein relativ gutes Bild der Situation machen, meist über das Fernsehen. Auch wurden die Massnahmen den Regierungen von der Mehrheit als angemessen beurteilt. Die Menschen waren also durchaus gewillt, sich an die Vorgaben zu halten. Doch aufgrund ökonomischer Nöte sowie fehlender Infrastruktur in armen städtischen Siedlungen, in denen sich oft mehrere Haushalte sanitäre Anlagen gemeinsam teilen, war es vielen schlicht unmöglich, sich konsequent an Social Distancing zu halten.
In gewissen Bereichen zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den zwei Staaten: Während in Ghana die höheren Lebensmittelpreise und das fehlende Einkommen zu den grössten Sorgen der Befragten zählten, war es in Südafrika oft die Angst davor krank zu werden. Dies könnte damit zusammenhängen, dass in Südafrika viele armutsbetroffene Haushalte auch während des Lockdowns noch staatliche Hilfsgelder erhielten. Für Kinder war die Situation besonders verheerend: Weil die Schulen geschlossen blieben, gaben in Südafrika 37 Prozent der Eltern an, dass ihre schulpflichtigen Kinder am Vortag der Befragung weder gelesen noch sonst gelernt hatten. Da die Mehrheit der Kinder in den befragten Haushalten in Südafrika und fast die Hälfte in Ghana in der Schule verpflegt werden, bedeuteten die Schulschliessungen für Familien nicht nur eine zeitliche, sondern vor allem auch eine finanzielle Zusatzbelastung.
Bleibende Angst infolge Lockdowns
Die Resultate zeigen auch, dass der gegenüber Ghana deutlich strengere Lockdown in Südafrika nicht automatisch dazu geführt hat, dass sich die Menschen stärker an Social Distancing-Massnahmen hielten. Für die meisten Befragten sei die Angst vor Jobverlust und zunehmender Armut viel schlimmer, als die Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19, sagt Van der Merwe. «Unsere Ergebnisse werfen für Behörden in Südafrika deshalb die Frage auf, ob sie anstelle eines möglichen zweiten Lockdown bei wieder steigenden Zahlen auch anders auf die Pandemie reagieren können.» Sie nennt als Beispiel Investitionen in den öffentlichen Verkehr oder zusätzliche Informationskampagnen.
Van der Merwe und Durizzo arbeiten aktuell an einer Folgestudie. Im Juli und August konnten sie rund 80 Prozent der ursprünglich Befragten nochmals kontaktieren und sie über die Entwicklung ihrer Situation nach Lockerung der Lockdowns befragen. «Es zeigt sich, dass die Menschen in Ghana heute weniger Angst haben als in Südafrika», erzählt Durizzo. «Die Situation in Ghana hat sich schneller wieder normalisiert, auch weil der Lockdown für die Menschen nicht so einschneidend war wie in Südafrika.»
Dieser Text ist in der Ausgabe 20/04 des ETH-Magazins Globe erschienen.