Tierversuche bleiben wichtig
Ohne Tierversuche kein Corona-Impfstoff: Medizinische Forschung bleibt auf Tierversuche angewiesen. Ein Verbot – selbst eines auf Raten – führt in eine forschungspolitische Sackgasse, schreibt Detlef Günther.

In diesen Tagen behandelt der Nationalrat die Volksinitiative für ein Tier- und Menschenversuchsverbot. Er befasst sich auch mit zwei Gegenvorschlägen aus der vorberatenden Kommission. Der erste Minderheitsantrag will in der Bundesverfassung einen schrittweisen Ausstieg aus belastenden Tierversuchen verankern, wobei klinische Versuche ausgenommen wären. Der zweite Antrag fordert, die Vorlage an die Kommission zur Ausarbeitung eines Gegenentwurfs auf Gesetzesstufe zurückzuweisen.
Wer eine Wissenschaft ohne Tierversuche fordert, blendet die vielen Entwicklungen von Medikamenten und Impfstoffen aus, zu denen Tierversuche einen zentralen Beitrag leisteten. Die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie, die den gesamten Globus seit mehr als einem Jahr in Atem hält, bestätigen dies. Noch nie in der Geschichte waren Wissenschaft und forschende Industrie in einem so hohen Mass gefordert, ein zuvor unbekanntes Virus zu entschlüsseln und rasch wirkungsvolle Therapien zu entwickeln. Und alle, die derzeit auf die langersehnte Impfung warten, sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Möglichkeit der Impfung nur durch Tierversuche ermöglicht wurde.
Komplexe Vorgänge verstehen
Die Forschung ist noch weit davon entfernt, dass Impfstoffe an Zellen ausreichend auf Wirksamkeit und Sicherheit getestet und anschliessend direkt an die gefährdete Bevölkerung weitergegeben werden können. Zwar können heute Zellen und Organoide – also Zellhaufen mit einem ähnlichen Aufbau wie Organe – im Labor gezüchtet werden, trotzdem sind es derzeit nur Modelle für reale biologische Prozesse. Wenn der Organismus in seiner ganzen Komplexität betrachtet werden muss, sind Tierversuche auch in Zukunft unabdingbar. Etwa dann, wenn wir das Immunsystem verstehen wollen. Ohne Tierversuche wäre die Ursache von Aids kaum je gefunden worden. Und um auf das konkrete Beispiel der Covid-19-Impfung zurückzukommen: Bei allen zugelassenen Impfstoffen musste im Tierversuch geprüft werden, ob sie die erhoffte Immunantwort auslösen, welche Dosierung es braucht und welche allfälligen Nebenwirkungen eintreten.
«Ein Tierversuchsverbot würde die Weiterentwicklung der Medizin erschweren.»Detlef Günther
Auch an der ETH wurden seit März 2020 Corona-spezifische Forschungsstudien durchgeführt, die Versuche an Mäusen erfordern. Ein Beispiel: Am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften wird in Zusammenarbeit mit dem Paul-Scherrer-Institut ein Radioligand entwickelt. Das ist eine Substanz, die aufgrund ihrer geringfügigen Strahlung mit einem bildgebenden Verfahren, der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), im Organismus sichtbar gemacht wird. Dies ermöglicht es zu untersuchen, wie die mittlerweile berühmten stachelartigen Proteinfortsätze des Covid-19-Erregers, die Spike-Proteine, im Lungengewebe an ihren Rezeptor andocken, wodurch das Virus den Weg in den Körper findet.1 Dank diesem PET-Radioliganden kann die Beurteilung von mit Covid-19 infizierten Patientinnen und Patienten erleichtert und die Behandlung individuell angepasst werden, um schweren Verläufen vorzubeugen.
Rechtfertigung als Voraussetzung
Wer Tierversuche als No-Go betrachtet, nimmt kaum zur Kenntnis, welch hohe Standards diesbezüglich in der Schweiz zu Recht verlangt werden. Unsere Tierhaltungen und Labors, wie zum Beispiel im Phenomics Center auf dem ETH-Campus Hönggerberg, sind in Sachen Tierhaltung, Hygiene und Tierschutz auf dem neuesten Stand, und der Betrieb erfolgt durch professionelles Personal. Forschende, die mit Tieren arbeiten, durchlaufen obligatorische Schulungen und sind sich der grossen Verantwortung bewusst, die ihre Arbeit mit den ihnen anvertrauten Lebewesen mit sich bringt.
Die strengen Schweizer Tierschutzbestimmungen führen nicht nur dazu, dass jeder Versuch gerechtfertigt und von den kantonalen Behörden bewilligt werden muss. Sie verpflichten die Forschenden auch, wo immer möglich solche Versuche durch alternative Forschungsmethoden zu ersetzen, die Zahl der eingesetzten Tiere zu reduzieren und die Belastung zu minimieren – ganz im Sinne des 3R-Prinzips (Replace, Reduce, Refine). Die ETH Zürich ist Mitglied des schweizerischen 3R Competence Centers und beschreitet diesen Weg konsequent und überzeugt. Als ETH-Vizepräsident für Forschung begrüsse ich es sehr, dass der Bundesrat das 3R-Prinzip mit einem neuen Nationalen Forschungsprogramm weiter fördern will.
Sowohl die Verbotsinitiative als auch die beiden Anträge sind von der verständlichen Absicht getragen, das Tierwohl zu erhöhen. Doch beide Wege, ein generelles Tierversuchsverbot wie auch ein Tierversuchsverbot auf Raten, führen in eine forschungspolitische Sackgasse. Sie würden die Weiterentwicklung der Medizin im Kampf gegen Krankheiten erschweren und die Gesellschaft gerade in bei grossen Gesundheitsherausforderungen, wie wir sie derzeit erleben, vor unlösbare Probleme stellen.
Kommentare
Es gibt in der Schweiz 1.72 Mio hausgefütterte Katzen. Wenn jede im Durchschnitt pro Jahr nur eine Handvoll Mäuse und Vögel tötet, sind das schon Dutzende Millionen. Unnötigerweise, denn Hauskatzen gehören nicht in die Natur. Es werden in der Schweiz jährlich 80 Mio Nutztiere getötet. Dies ist heutzutage ziemlich unnötig und dient lediglich dem Genuss. Es gibt in der Schweiz 700'000 Versuchstiere (zum grössten Teil kleine Nager), davon etwa 200'000 (meist Mäuse) in der höchsten Belastungsklasse. Natürlich sind belastende Tierversuche nichts schönes, und es ist im Interesse aller, die Anzahl und Belastungsstufe zu reduzieren. Aber kein einziger Forscher und kein einziges Unternehmen machen dies mit Freude, da belastend und teuer. Man muss aber einsehen, dass die wenigen Versuchtstiere einen verhältnismässig grossen Nutzen bewirken (Wissen besteht weit in die Zukunft hinein) - ganz im Gegensatz zu den vielen Millionen unnötigen Tieropfer infolge Fleischkonsums und Hauskatzen. Seien wir also nicht heuchlerisch!
Prof. Günther behauptet, dass die Forschungsmethode "Tierversuch" nötig sei. Beleg: Ein einziger über Radioliganden. Die wahren Kenner, wie wirksam und nützlich Tierversuche sind, sind aber nicht Professoren, die Tierversuche anwenden (ich bin auch nicht Computerspezialist, obwohl ich ihn täglich anwende), sondern die Forschungsmethodiker, die verschiedene Methoden untersuchen. Und die lassen kein gutes Haar am Tierversuch. Wir haben dazu über 60 Belege mit Quellenangaben. Deshalb behaupten wir, dass Tierversuche nicht nur unethisch aber auch unwissenschaftlich sind.
Tier- und Menschenversuche sind nicht nur empathielose sondern auch schlechte Wissenschaft. Mit Tierversuchen und Menschenversuchen wird lediglich kaschiert, dass gute speziesspezifische und individuumsspezifische Modellsysteme immer noch fehlen. Von 100 Substanzen fällt die Mehrheit (rund 95%) bei der Generalprobe (Menschenversuch) durch, trotz erfolgsversprechenden Tierversuchen, und darf nicht auf den Markt. Trotz gewaltiger «Ausschussproduktion» wie sie in keiner anderen Branche betrieben wird, herrschst auch am Markt weiter grosses Versagen: «Nach Spaer et al. (2001) erhalten ungefähr 20 – 75% der Patienten keine wirksame Therapie» S. 82, 2016, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, «Personalisierte Medizin – Hoffnung oder leeres Versprechen?»
@Holzherr: Was «offiziell» als «klinische Studie» beschönigt wird, ist in Tat und Wahrheit ein Menschenversuch. Es ist ein steinzeitliches «Forschen» nach dem Motto: «Versuch und Irrtum». Würde man die Qualitätsanforderungen an die Vorbereitung endlich massiv erhöhen, dann müsste man Probanden und Patienten nicht in dem Masse gefährden und belasten, wie das heute geschieht. Die Mehrheit der Substanzen, welche die klinische Studie durchlaufen, sind Irrläufer verursacht durch ungeeignete Vorbereitungen. Solches ist aus ethischer und wissenschaftlicher Sicht nicht akzeptabel, auch wenn es sich wirtschaftlich dennoch rechnet.
Was sie Menschenversuche nennen, heisst offiziell klinische Studien. Die Corona-Impfstoffe müssen diese klinischen Studien durchlaufen was der Grund für die lange Zeitspanne bis zur Zulassung und für die hohen Kosten der Impfstoffentwicklung sind. In den nächsten 50 Jahren wird es mit Sicherheit weiterhin klinische Studien brauchen bevor ein Medikament zugelassen ist. Denn der Mensch kann bis jetzt weder im Computer noch im Labor „simuliert“ werden und das bedeutet, dass ein für das breite Publikum bestimmtes Medikament immer zuerst an einer Versuchsgruppe getestet werden muss genauso wie ein Auto auch heute noch reale und nicht nur computersimulierte Crashtests bestehen muss bevor es zugelassen ist.
Ich möchte den Argumenten von Prof. Günther einen weiteren Aspekt hinzufügen: Anstatt auf Verbote zu setzen, sollte man die Tierversuche durch positive Anreize zu reduzieren versuchen, indem man einen gut dotierten Fonds gründet, der nur Forschungsgruppen unterstützt, die ausschliesslich mit Menschen forschen. Das dürfte dazu beitragen, dass Forschungsgruppen die Seiten wechseln.
Die Herausforderung ist, dass nicht einmal Familienmitglieder gleich auf eine Anwendung reagieren - deshalb dürfen auch Menschenversuche nicht hingenommen werden.
Beim Argument Tierversuche generell zu befürworten mangelt es meines Erachtens genauso einer differenzierten Betrachtung, wie es im Artikel den pauschalen Tierversuchsgegnern vorgeworfen wird. Für mich macht das dahinterliegende Problem, das mit einem Tierversuch zu lösen versucht wird, einen Unterschied zum fallweisen Ja oder Nein.
Zentral ist, dass Tierversuche der Wissenschaft in der Schweiz als mögliche Methode grundsätzlich erhalten bleiben. Bei jedem einzelnen Tierversuchsgesuch müssen dann die Fragen der Eignung und der Erforderlichkeit sorgfältig abgeklärt sowie Belastungen von Tieren durch überwiegende Interessen gerechtfertigt werden. Die Frage, ob eine Belastung gerechtfertigt werden kann, muss im Rahmen einer Güterabwägung für jedes einzelne Gesuch beantwortet werden. Eine Bewilligung für einen Tierversuch wird durch die zuständige Behörde erst erteilt, wenn alle gesetzlichen Anforderungen erfüllt sind.
Sehr sachliches Statement, Dank dafür an Prof. Günther.
Nun ja, also ... Die Entwicklung der Corona-Impfstoffe dauerte ja auch mit Tierversuchen viel zu lange! Aber das heißt est recht, dass man der Pharmaforschung nicht noch weitere Knüppel zwischen die Beine werfen darf. Aber weshalb nicht eine eingeschränkte Zulassung der Tierversuche: Ja, wenn es um gesundheitsrelevante Entwicklungen geht (wie eben Impfstoffe); ein klares Nein für rein kosmetische Produkte?
Auch wenn kein explizites Verbot besteht, sind Tierversuche für Kosmetika de facto in der Schweiz nicht erlaubt. Sie erfüllen die gesetzlichen Vorgaben für eine Bewilligung nach Tierschutzverordnung Art. 137 nicht. Weitere Erläuterungen dazu finden Sie unter https://naturwissenschaften.ch/animal-experimentation-explained/introduction/necessitycall_made
Es gibt wirklich grosse Dogmen in Wissenschaft und Medizin. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir Viren, Bakterien usw. "beherrschen" oder ausrotten könnten. Sie sind Teil der Natur, so wie wir es auch sind. Die Pharmaindustrie hat übrigens mit Abstand das grösste Wachstum aller Branchen zu verzeichnen. Es ist Zeit, dass sie auch bei der Herstellung und Entwicklung ihre Verantwortung übernimmt.