Zu Höherem berufen
Manfred Hunziker trieb es stets in ganz verschiedene Richtungen, am beständigsten aber nach oben. Der ETH-Elektroingenieur hat weit über sechseinhalbtausend Berggipfel bezwungen. Der Aufstieg der Computertechnik zeichnete dabei seine berufliche Laufbahn vor.
Der entscheidende Moment in seinem Leben, erzählt Manfred Hunziker, habe sich vor 58 Jahren ereignet, an einem Donnerstag im Winter 1963, kurz vor 16 Uhr. Eine Exkursion des ETH-Fachvereins AMIV hatte den damals 23-jährigen Elektrotechnikstudenten ans Europäische Forschungszentrum der IBM in Rüschlikon geführt. Die Führung durch das neu eröffnete Zentrum und besonders der Computer im Untergeschoss beeindruckten ihn. Folgenreich wurde der Ausflug beim Kaffee, als ein Teamleiter der Firma ein Praktikumsangebot als Programmierer erwähnte. Hunziker bewarb sich und erhielt die Stelle. In den folgenden Monaten sammelte er nicht nur wichtige Erfahrungen in der Welt der Rechenmaschinen, sondern auch mit dem Arbeitgeber, dem er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2000 treu bleiben sollte – obwohl Hunziker das damals noch nicht ahnte.
In fremden Welten
Nach dem ETH-Diplom als Elektroingenieur zog es ihn, der im thurgauischen Märwil aufgewachsen war, nämlich zunächst über den Atlantik. «Der Ingenieur hat stets ein Ziel vor Augen», stellt Hunziker klar. In diesem Fall: ein «Master of Science in Electrical Engineering» am Georgia Tech, der ihm durch ein Stipendium ermöglicht wurde. Wie schon an der ETH zeigte Hunziker sich auch in Atlanta sehr engagiert, was sich in seinen Noten niederschlug und sich auch beim Besuch der Recruiter aus der Industrie gegen Ende des Schuljahrs positiv auswirkte. Die rare und darum begehrte Computererfahrung in seinem Lebenslauf tat ihr Übriges: Hunziker wurde von verschiedenen Firmen in den USA zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, auch von der IBM. Deren Recruiter sandte seine Unterlagen wiederum an die Schweizer Niederlassung der Firma. «Bald kam ein interessantes Stellenangebot in der Kundenbetreuung, und etwas Heimweh hatte ich auch», erinnert sich Hunziker. Der nächste Schritt war vorgezeichnet.
Darauf angesprochen, was er aus der Studienzeit mitgenommen habe, nimmt Hunziker den Fokus weg vom Fachlichen: Er, ein «Hinterwäldler», sei an der ETH erstmals unter die Leute gekommen, habe gelernt, sich in fremden Welten zu bewegen. Damit spricht er das freitägliche Biertrinken an der Bahnhofstrasse an, aber auch sein Engagement als Verlagsleiter im Fachverein, wo er mitunter gar zum Aktivisten wurde. Als der Studierendenverband von den ETH-Studierenden eine Gebühr von sechs Franken für die Finanzierung eines Berghauses in Klosters einführen wollte, stellten Hunziker und sein Fachverein sich quer: Mit einem von ihm verfassten Flugblatt mit dem Titel «Dein Geld – wohin?» sowie einer Unterschriftensammlung konnte die drohende Zwangsabgabe verhindert werden. Einige der Kommilitonen, die mit von der Partie waren und ihn teilweise zu solchen Aktionen angestachelt hätten, wie er schmunzelnd sagt, sieht er heute, mit 81 Jahren, noch regelmässig. Zweimal im Jahr trifft man sich im gemütlichen Rahmen zu einem ausgedehnten Imbiss. Die Gruppe dünne sich altersbedingt leider langsam aus, meint Hunziker, aber ein gutes Dutzend komme meistens noch zusammen, um sich «immer wieder die alten Geschichten» zu erzählen. Die ETH, die ihm damals zu einem Stipendium für seinen Master in den USA verhalf, unterstützt Hunziker heute via ETH Foundation finanziell mit einem Beitrag an die Exzellenzstipendien.
«Der Ingenieur rechnet aus: 60 Berge pro Jahr, 40 Jahre lang – das müsste klappen.»Manfred Hunziker
Ausgleich in der Höhe
Obwohl die Stelle bei IBM ihm bis zur Pensionierung Freude machte, nahm sie Hunziker doch nie vollständig ein. Sein Ehrgeiz trieb ihn stets in verschiedene Richtungen. Inspiriert durch einen Werkstudenten in seinem Team, reifte bei ihm mit Anfang dreissig der Gedanke, das Arbeitspensum zur Hälfte zu reduzieren und daneben eine zweite Ausbildung anzufangen. Seine Wahl fiel auf die Rechtswissenschaft. «Ein Anwalt oder Richter geht im Prinzip ähnlich vor wie ein Ingenieur. Ihm wird ein Fall präsentiert, den es nach klaren Regeln zu lösen gilt», sagt Hunziker. Der Vorsprung auf seine Mitstudierenden in punkto Studien- wie auch Lebenserfahrung sei ihm dabei zugutegekommen. Die vertiefte Beschäftigung mit der Jurisprudenz gefiel ihm so gut, dass er dem Abschluss noch eine Dissertation zum Urheberrecht folgen liess. Das erworbene Wissen nutzte Hunziker unter anderem bei seiner Arbeit für die Zeitschrift «UFITA», für die er gegen hundert wissenschaftliche Werke zum Urheberrecht besprach.
In der Freizeit, die ihm neben Beruf und Studium blieb, suchte Hunziker den Ausgleich nicht in der Entspannung, sondern in der Herausforderung. Seine grösste Leidenschaft gilt dem Bergsteigen. Getreu seinem Leitspruch durfte auch hier ein klares Ziel nicht fehlen: Hunziker ist ein Gipfelsammler. Angefangen hatte alles mit dem Buch «Die Berge der Schweiz» von Herbert Maeder. Hunziker setzte sich mit 28 Jahren in den Kopf, alle der rund 2400 im Buch aufgeführten Gipfel zu besteigen. «Der Ingenieur rechnet aus», erklärt er: «60 Berge pro Jahr, 40 Jahre lang – das müsste klappen.» Hunziker war schneller als berechnet. Mit 65 Jahren fehlten nur noch 97 meist unbedeutende Gipfel, die ihn nicht mehr reizten. Ein neues Ziel musste her. Die Schweiz war für Hunzikers Sammelwut zu klein geworden, das erweiterte Lebensprojekt reichte nun von Nizza bis Triest, über den jeweils höchsten Gipfel aller Berggebiete im gesamten Alpenkranz. Auch dieses Projekt hat er abgeschlossen. Die wenigen Gipfel, die übrig sind, waren ihm nicht attraktiv genug – oder zu schwierig. Hunziker ist ehrgeizig, aber vernünftig. Er erzählt von einem Gipfel in den Dolomiten, von dem er nur noch 50 Meter entfernt war, als er umkehrte. Allein und ungesichert schien ihm das letzte Stück zu gefährlich: «Da fällt man schnell locker tausend Meter hinunter.» Das Klettern sei ohnehin nie seine Stärke gewesen, führt er aus. Er wählte grundsätzlich die einfachsten Routen, absolvierte anspruchsvollere meist mit Bergführer. Heute zählt die Gipfelsammlung weit über 6500 Exponate.
Hochhaustreppe als Trockenübung
Den riesigen Erfahrungsschatz, den Hunziker in den Bergen sammelte, liess er auch in sein Engagement beim Schweizer Alpen-Club einfliessen. Auf über 250 von ihm geführten Bergtouren im In- und Ausland konnte er seine Leidenschaft mit weniger erfahrenen Berggängerinnen und Berggängern teilen. Der kritische Geist, der schon zu Studienzeiten aufgeblitzt war, fiel auch im Vereinsgeschehen auf. Seine Einwände hätten ihm «nicht immer Wohlwollen, aber stets Respekt» eingetragen, resümiert Hunziker, und ihn nach kurzer Zeit in den Vorstand der Zürcher Sektion Uto geführt. Er beliess es denn auch nie beim Kritisieren, sondern handelte und verbesserte – etwa indem er an sieben SAC-Clubführern mitarbeitete. An Gipfeln, die er noch besteigen müsste, bleibe jetzt eigentlich nichts mehr, sagt er. Bergtouren macht er natürlich trotzdem noch. Das Bergsteigen sei zum Glück ein Sport, den man lange betreiben könne: «Auch heute noch überhole ich beim Aufstieg manche andere», erzählt er. Das Höhenfieber hat sich auch auf die Wahl seines Wohnorts ausgewirkt: Er residiert in Altstetten im 22. Stock eines Hochhauses, für die Stadt Zürich also schon fast hochalpin. Durch die grossen Fenster sieht er über die ganze Stadt, auf den Uetliberg und bei schönem Wetter auch auf die Alpen. Den Lift benutzt er übrigens dem Autor zuliebe. Sonst führt der Heimweg häufig über die Treppe. Gut 60 Höhenmeter – für einen wie ihn eine leichte Übung.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/03 des ETH-Magazins Globe erschienen.
Verwandte Artikel
- chevron_right «Abkürzungen gibt es nicht» (Alumna Elena Roos, Globe 02/21)
- chevron_right Im Einsatz für den Frieden (Alumna Therese Adam, Globe 01/21)
- chevron_right Ingenieur als Erfolgsberuf (Alumnus Martin Bosshardt, Globe 04/20)
- chevron_right Bürgerin in Uniform (Alumna Germaine Seewer, Globe 03/20)
- chevron_right Die Problemlöserin (Alumna Julia Wysling, Globe 03/2019)