Wer produktiv scheitert, lernt mehr
Forschende der ETH Zürich zeigen, dass sich produktives Scheitern positiv auf den Lernerfolg auswirkt. In einem der grössten ETH-Kurse stieg die Erfolgsquote um 20 Prozent.
Lange Zeit galt es in der Pädagogik als ausgemacht, dass wir neue Dinge am besten lernen, wenn sie uns jemand erklärt. Zuerst kommt die Instruktion, dann das Üben, lautet das bis heute in unzähligen Klassenzimmern und Hörsälen praktizierte Rezept für schulischen oder akademischen Erfolg.
Forschende am Lehrstuhl für Lernwissenschaften der ETH Zürich zeigen nun in einer breit angelegten Analyse und einem Experiment, dass es sich genau umgekehrt verhält. «Wer optimale Lernerfolge erzielen will, zerbricht sich besser zuerst den Kopf über ein auf ein Thema zugeschnittenes Problem, bevor sie oder er sich in den Grundlagen dazu vertieft», erklärt ETH-Professor Manu Kapur, der die Studie gemeinsam mit Postdoktorand Tanmay Sinha verfasste. Das Geheimnis hinter diesem Ansatz: Die Erfahrung des produktiven Scheiterns.
15 Jahre Lernforschung zusammengefasst
Bei der Studie von Sinha und Kapur handelt es sich um eine Metaanalyse der Lernforschung aus den letzten 15 Jahren. Die Autoren untersuchten 53 Studien, die sich in 166 vergleichenden Analysen allesamt mit der Frage beschäftigten, was die effektivere Lernstrategie ist: Instruktionen vor dem Üben oder umgekehrt. Der thematische Fokus lag dabei vor allem darauf, wie gut Schüler, Schülerinnen und Studierende Konzepte aus der Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und Medizin verstanden oder erfolgreich anwenden konnten. Allgemeine Fähigkeiten wie sinnerfassend lesen oder verständlich schreiben sowie geistes- oder sozialwissenschaftliche Fragen waren nicht Teil der Metastudie.
Knapp die Hälfte (45 Prozent) der getesteten Schüler, Schülerinnen und Studierenden besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung die Oberstufe und waren damit 12 bis 18 Jahre alt. Über ein Drittel (37 Prozent) absolvierten gerade eine Bachelor-Studium und jeder sechste (15 Prozent) war noch in der Grundschule. Knapp die Hälfte (43 Prozent) der Schüler und Studierenden stammten aus Nordamerika und jeweils über ein Viertel aus Europa (26 Prozent) und Asien (28 Prozent).
Drei Mal so effizient wie eine gute Lehrperson
Die Ergebnisse stellen die Lernforschung der letzten Jahrzehnte auf den Kopf: Alle untersuchten Schüler, Schülerinnen und Studierenden lernen deutlich erfolgreicher, wenn sie Übungen und Probleme lösen müssen, bevor ihnen die dafür notwendigen Konzepte erklärt werden. Auf Schülerinnen und Schüler der Oberstufe und Studierende im Grundstudium trifft dies allerdings stärker zu als auf Primarschülerinnen und Schüler. Für die Autoren ist dafür eine Kombination aus Faktoren verantwortlich: Primaschülerinnen und Schüler wissen oft noch zu wenig über ein Gebiet, um sich produktiv an Problemen abarbeiten zu können. Zudem sind ihre Fähigkeiten analytisch zu denken und Probleme zu lösen noch schwächer ausgebildet.
Besonders erstaunlich ist, wie stark sich dies auf den Lernerfolg auswirkt: «Vor dem Erlernen der Theorie zu üben, ist fast doppelt so effizient, wie ein Jahr lang von einer exzellenten Lehrperson unterrichtet zu werden», erklärt Kapur. Doch damit nicht genug: Wenn Schülerinnen, Schüler und Studierende im Zuge des Übens auf eine «produktive» Weise scheitern, verdoppelt sich ihr Lernerfolg erneut und ist damit drei Mal so hoch wie die Wirkung einer sehr guten Lehrerperson für ein Jahr.
Warum sich produktives Scheitern lohnt
Doch was genau passiert, wenn Lernende produktiv scheitern? Für Sinha und Kapur sind vier Mechanismen am Werk: Erstens sollte eine Fragestellung möglichst viel relevantes Wissen aktivieren. «Produktives Scheitern», so Kapur, «erfordert gewisse Vorkenntnisse. Wer sich zum Beispiel an einem statistischen Problem wie der Ermittlung der Standardabweichung produktiv abarbeiten will, sollte zumindest mit grundlegen Konzepten wie dem Mittelwert vertraut sein.» Zweitens geht es darum, dass Lernende die Kluft zwischen ihrem Wissen und dem, was sie nicht wissen, erkennen. Dieses Bewusstsein sensibilisiert sie drittens für neue Konzepte und weckt ihr Interesse für die Lösung des Problems.
Zu guter Letzt kommt dann viertens die Auflösung durch die Lehrperson oder das Lehrmittel, in dem erklärt wird, mit welchem neuen Konzept die Fragestellung beantwortet werden kann und warum die Lösungen der Lernenden nicht ans Ziel führten. «Für den Lernerfolg ist es entscheidend, den Unterricht so zu gestalten, dass diese vier Mechanismen möglichst stark präsent sind», erklärt Kapur. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich Lernende an intuitiv leicht erfassbaren, aber mit ihrem Wissen noch nicht lösbaren Problemen versuchen, bevor sie die neuen Konzepte vermittelt bekommen.
20 Prozent höhere Erfolgsquoten
Doch ETH-Professor Kapur und sein Team beliessen es nicht bei einer Metaanalyse. Sie testeten ihre Theorie direkt im Hörsaal, bei einem der grössten Kurse an der ETH Zürich: Lineare Algebra für rund 650 Studierende des Departements für Maschinenbau und Verfahrenstechnik. Der Aufbau des Kurses folgte dem traditionellen Ansatz: Konzepte werden in Vorlesungen vorgestellt und dann in Übungen angewandt und vertieft.
Unter der Leitung von Vera Baumgartner – Doktorandin am Lehrstuhl für Lernwissenschaften – und in Zusammenarbeit mit ETH-Mathematikprofessor Norbert Hungerbühler entwickelten Kapur und sein Team eine Reihe von Aufgaben, mit denen Studierende freiwillig vor fünf wichtigen Vorlesungen üben konnten. Das Ziel der Übungen: Produktives Scheitern. An die 60 Prozent ergriffen diese Chance und nahmen den zusätzlichen Arbeitsaufwand auf sich. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Historisch schliessen im Schnitt nur knapp über die Hälfte (55 Prozent) den Kurs erfolgreich ab. Die Erfolgsrate bei jenen Studierenden, die vor den Vorlesungen produktiv scheiterten, ist um 20 Prozent höher und ihre Noten sind deutlich besser. Für die Autoren ist damit klar: Wer öfter produktiv scheitert, lernt mehr.
Literaturhinweis
Sinha T, Kapur M, When Problem Solving Followed by Instruction Works: Evidence for Productive Failure, Review of Educational Research, 18 June 2021, DOI: externe Seite 10.3102/00346543211019105