Labor für die Gesellschaft

Die ETH Zürich war immer schon ein Spiegelbild gesellschaftlicher Strömungen. In den letzten zwanzig Jahren wurde sie internationaler, autonomer, digitaler und auch weiblicher.

Vorlesungssaal damals und früher
Nicht nur die Mode oder der Anteil an Studentinnen haben sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts geändert. Innovative Lehrformen gehören an der ETH zum Alltag. Neue kommen laufend dazu. (Bilder: Jasmin Frei / ETH Zürich; ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Johann Barbieri)

Neues zu erforschen und Etabliertes zu vermitteln, sind seit über zwei Jahrhunderten die Kernaufgaben der europäischen Universität. Mit Blick auf diese beiden Säulen scheinen Hochschulen erstaunlich beständige Institutionen zu sein. Doch wer genauer hinsieht, erkennt, dass sich sowohl die Art und Weise, wie sie diese Aufgaben erfüllen, als auch ihr Selbstbild immer wieder stark veränderten.

Auch die bewegte Geschichte der ETH Zürich zeigt, dass sich die Hochschule stets in Wechselwirkung mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in ihrem Umfeld wandelte. In den letzten zwanzig Jahren wurde sie dabei nicht nur internationaler, autonomer und digitaler, sondern auch weiblicher und innovationsfreudiger. Gleichzeitig fungierte die ETH durch die Erforschung neuer Technologien und deren Transfer in die Gesellschaft immer wieder als zentraler Impulsgeber für Veränderungen. Sie war gleichsam Abbild der und Laboratorium für die Gesellschaft.

Vernetzung und Mobilität steigen

War die Wissenschaft in ihrem Grundverständnis immer schon universal und damit länderübergreifend, nahm der Grad ihrer internationalen Vernetzung in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich zu. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie komplex: Zum einen suchten im Zuge der Globalisierung immer mehr Menschen auch jenseits ihrer Landesgrenzen nach optimalen Forschungs- oder Studienbedingungen.

Zum anderen konnte die Nachfrage nach Forschenden vor allem in kleineren Ländern schlicht nicht am nationalen Arbeitsmarkt gedeckt werden. Die Schweiz galt spätestens seit den 1980er Jahren als Wissensgesellschaft. Der Faktor Wissen wurde damit neben dem Dienstleistungssektor auch in der Industrie zum entscheidenden Wachstums- und Innovationstreiber.

Besonders deutlich zeigte sich dies Anfang der 1990er Jahre in wichtigen neuen Technologiefeldern wie der Molekularbiologie, der Mikroelektronik oder der Informatik. Wollte die Schweiz hier langfristig nicht zurückzufallen und den Anschluss an die Weltspitze verlieren, war sie auf internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angewiesen.

Globaler Wettbewerb um Talente

ETH Zürich und ETH Standort in Singapur
Talentierte Studierende aus der ganzen Welt, global vernetzte Forschende: Die ETH Zürich hat die dicken Mauern des Polytechnikums längst verlassen. Seit 2010 forscht die ETH Zürich auch an ihrem Standort in Singapur. (Bilder: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Unbekannt; CREATE, National Research Foundation Singapore and Perkins + Will)

Wie ETH-Professor David Gugerli in «Die Zukunftsmaschine», dem Standardwerk zur ETH-Geschichte, ausführt, lagen diese Überlegungen spätestens seit den 1990er Jahren auch der Rekrutierungspolitik der ETH zu Grunde. Die ETH stand damals schon in einem sich verschärfenden globalen Wettbewerb um Talente, an dem sich seit der Jahrtausendwende auch asiatische Universitäten immer selbstbewusster beteiligen. Wie erfolgreich die ETH dabei war, zeigt ein Blick in die Statistik: Kamen bis in die frühen 1980er Jahre noch weniger als 30 Prozent der ETH-Professoren aus dem Ausland, stieg dieser Anteil bis 2020 auf 67 Prozent.

Bei den Doktorierenden ist ein ähnlicher Trend zu verzeichnen: Während 1990 lediglich jeder dritte Doktorierende nicht aus der Schweiz kam, stammen 2020 drei Viertel der Doktorierenden aus dem Ausland. Diese starke Internationalisierung der Forschung blieb nicht ohne Folgen für die Beziehung der ETH zu ihrem Umfeld.

Gugerli zufolge verlagerte sich die Vernetzung der ETH-Forschenden zunehmend von der nationalen auf die internationale Ebene. Ähnlich wie bei grossen Schweizer Unternehmen kam es zu einer Erosion bestehender nationaler Netzwerke, die durch eine Professionalisierung der Aussenbeziehungen der ETH kompensiert wurden. Konservative Stimmen aus Politik und Gesellschaft sprachen gelegentlich gar von einer Entfremdung der ETH von ihren nationalen Wurzeln.

Weitaus weniger erfolgreich verlief die Rekrutierung von Frauen an der ETH Zürich. Es 
dauerte bis 1985, als mit der Architektin Flora Ruchat-Roncati die erste ordentliche Professorin ernannt wurde. Bis 2020 stieg der Frauenanteil in der Professorenschaft auf 18 Prozent, bei den Studierenden liegt er bei 33 Prozent. Bis zu einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis in Forschung und Lehre ist es auch heute noch ein weiter Weg.

Die Internationalisierung des Studiums

Auch um die besten Studierenden entwickelte sich in den letzten zwanzig Jahren ein immer intensiverer globaler Wettbewerb. Für Antonio Loprieno, Präsident der European Federation of Academies of Sciences and Humanities, waren zwei Entwicklungen dabei besonders massgebend: Die 1999 angestossene und 2005 vollendete Bologna-Reform führte zunächst zu einer Harmonisierung – in den Augen mancher Kritiker gar zu einer Verschulung – der Studiengänge in Europa entlang des nord­amerikanischen Bachelor/Master-Systems. «Ein einheitlicher Hochschulraum, in dem unterschiedliche Studienangebote durch das System der ECTS-Punkte plötzlich vergleichbar wurden, stärkte die Mobilität der Studierenden», so Loprieno.

Parallel dazu entstanden neue Rankings, die Hochschulen zu Beginn der 2000er Jahre zwar 
international vergleichbar machten, dabei aber wenig Rücksicht auf nationale Besonderheiten nahmen und dadurch bis heute unvollständig sind. «Diese beiden Entwicklungen», erklärt der Historiker, «führten zu einer Globalisierung des Studiums und einer internationalen Öffnung der Universität.» Hochschulen wie die ETH Zürich, die in den neuen Rankings gut positioniert waren, wurden damit noch attraktiver. Dementsprechend stieg der Anteil ausländischer Studierender an der ETH von 2000 bis 2020 von 20 auf 40 Prozent.

«Innovationsförderung wird immer mehr zum entscheidenden Position­ierungsmerkmal für Hochschulen.»  Antonio Loprieno

Autonomie und Selbstbestimmung

Um im internationalen Wettbewerb um Köpfe, Gelder und Rankings möglichst effizient und flexibel handeln zu können, wurden Hochschulen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch finanziell und administrativ in die Autonomie entlassen. «Dieses Versprechen der Autonomie wurde durch Konzepte des New Public Management genährt», erklärt der Historiker Gugerli. Von dieser Bündelung von Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung an einem Ort 
versprach man sich politische, ökonomische und wissenschaftliche Gewinne.

Dieser Logik entsprechend erhielt auch die ETH 2004 ihre Budgetautonomie. Sie konnte fortan selbst über die ihr zur Verfügung stehenden Mittel bestimmen. Es ist heute schwer vorstellbar, dass Hochschulen früher eher Ämtern glichen, die in ihre jeweiligen nationalen Verwaltungsstrukturen eingebettet waren. Auf einem zunehmend kompetitiven Bildungsmarkt, auf dem rasche Entscheidungen und flexible Finanzierungsmöglichkeiten 
essenziell waren, wurde dieses Modell aber als zunehmend ineffizient angesehen.

Drittmittel und Digitalisierung

Smartphone und Bücher
Alles digitalisiert. Alles jederzeit von überall zugänglich. Warum noch an die ETH kommen? Weil Wissenserwerb so viel mehr ist als das Büffeln von Fakten. (Bilder: Eneil Soni / Unsplash; ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Giorgio von Arb)

Mit dem Zugewinn an Autonomie gingen, so Hochschulforscher Loprieno, auch eine stärkere Orientierung an betriebswirtschaftlichen Grössen sowie eine Diversifizierung der Finanzierung einher. Kompetitiv eingeworbene Drittmittel aus nationalen und internationalen Töpfen sowie Zuwendungen aus der Privatwirtschaft wurden immer wichtiger. Was für die einen mehr Flexibilität und unternehmerischen Spielraum bedeutete, roch für die anderen nach Ökonomisierung und stärkerer Abhängigkeit von privatwirtschaftlichen Interessen. Mit der ETH Foundation gründete die ETH 2004 eine eigene Stiftung, um verstärkt auf private Gönnerinnen und Förderer zuzugehen.

Etwa zur gleichen Zeit, als die ETH Zürich autonom wurde, kam es auch zu einer Verlagerung zahlreicher operativer Prozesse ins Netz. Von der Registrierung für Kurse bis zur Anstellung neuer Mitarbeitender wurde die Hochschule sukzessive digitalisiert. Diese Entwicklung kulminierte im vergangenen Jahr in einer Corona-bedingten Verlagerung der Lehre in den virtuellen Raum. Darüber hinaus können wir aktuell gerade beobachten, wie die Kombination aus grossen Datenmengen, leistungsfähigen Rechnern und immer besseren Algorithmen die Arbeit vieler Forschenden nachhaltig verändert.

Europäisierung der Forschung

Obgleich die Gemeinschaft der Forschenden immer schon international dachte, kam es in den letzten zehn Jahren zu einer regelrechten Europäisierung der Forschungslandschaft. Im Zentrum dieser Entwicklung stand 2007 die Gründung des Europäischen Forschungsrates, kurz «ERC». «Der ERC erzeugte zum ersten Mal einen genuinen Wettbewerb der europäischen Universitäten. Ein ERC-Grant wurde bald zum Goldstandard für international exzellente Grundlagenforschung und zum wichtigen Leistungsausweis für Forschende», erklärt Helga Nowotny, emeritierte ETH-Professorin und von 2010 bis 2013 Präsidentin des ERC.

Die gut dotierten, aber hart umkämpften Fördergelder des ERC gehen grösstenteils an jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und an Projekte, im Rahmen derer zwei bis vier Forschende gemeinsam an einem besonders schwierigen Problem arbeiten. Inzwischen gilt der ERC als grosser Erfolg der europäischen Forschungsförderung. Die ETH konnte seit 2007 232 Grants in der Höhe von 511,6 Millionen Franken einwerben und zählt damit zu einer der erfolgreichsten Hochschulen in Europa. Umso bedauerlicher ist es, dass die Schweiz als bisher assoziiertes Land aus Horizon Europe ausgeschieden ist und dadurch die besten Forschenden von Schweizer Institutionen nicht voll an ERC-Projekten teilnehmen können.

Neuer Fokus auf Innovation

Neben Forschung und Lehre zählte der Wissenstransfer immer schon zu den Kernaufgaben von Universitäten. Antonio Loprieno zufolge wurde er in den letzten zehn Jahren zunehmend im Sinne einer Innovationsförderung gedeutet: «Die Fähigkeit, Innovationen über Firmengründungen direkt oder über entsprechende Schwerpunkte in der Lehre indirekt zu fördern, wird immer mehr zu einem entscheidenden Positionierungsmerkmal für Hochschulen», erklärt er. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass Hochschulen schon seit einiger Zeit auch die Gründung von Unternehmen durch ihre Absolventen, sogenannte Spin-offs, als wichtigen Leistungsausweis kommunizieren.

Der Bildungs-, und Forschungsauftrag der Universitäten wurde damit um einen Innovationsauftrag erweitert. Um Hochschulen herum sind ganze Innovationsökosysteme entstanden, in denen ein reger Wissenstransfer zwischen Universitäten und Unternehmen stattfindet. Besonders deutlich wird dies in Zürich, das aufgrund seiner Hochschulen, seiner zentralen Lage und seiner Lebensqualität zu einem Magneten für Tech-Konzerne wie Google, Microsoft, IBM, Facebook, Hitachi, Amazon und seit Kurzem auch Zalando geworden ist.

Gleichzeitig steigen angesichts globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel auch die 
gesellschaftlichen Erwartungen an die Wissenschaft. Ob die auf Innovation und globalen Wettbewerb getrimmten Universitäten diesen Erwartungen gerecht werden können, bleibt abzuwarten. Sicher ist hingegen, dass die Hochschule auch in den nächsten 20 Jahren ein Spiegelbild der Gesellschaft bleiben wird.

Zu den Personen

David Gugerli ist Professor für Technik­geschichte an der ETH Zürich.

externe Seite Antonio Loprieno ist Präsident der European Federation of Academies of Sciences and Humanities und Professor für Geschichte an der Universität Basel.

externe Seite Helga Nowotny ist emeritierte ETH-Professorin für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsforschung. Von 2010 bis 2013 war sie Präsidentin des ERC.

Dieser Text ist in der Ausgabe 21/04 des ETH-​​​Magazins Globe erschienen.

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