«Die Neutralität ist nur ein Mittel unter vielen»

Der Krieg in der Ukraine stellt die Schweizerische Sicherheitspolitik vor grosse Herausforderungen. Warum es in Zukunft ein breites Verständnis von Verteidigung braucht und die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit zunimmt, erklärt Andreas Wenger, Direktor des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich.

Andreas Wenger
Andreas Wenger ist Professor für schweizerische und internationale Sicherheitspolitik und Direktor des Center for Security Studies an der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich)

Herr Wenger, es herrscht nun seit über zwei Monaten Krieg in der Ukraine. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Andreas Wenger: In den letzten zwei Wochen haben sich die Anzeichen verdichtet, dass der Krieg zu einem langwierigen Konflikt wird. Die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine sind in den Hintergrund gerückt. Ein baldiger ausgehandelter Waffenstillstand ist ebenso unwahrscheinlich wie eine umfassendere politische Lösung.

Wie geht es weiter?

Beide Seiten planen bereits für eine Phase der militärischen Auseinandersetzung, die über die derzeitigen russischen Offensiven im Osten und Süden der Ukraine hinausgeht. Während Putins Generäle mit dem Zerfall der Ukraine in mehrere Teilstaaten drohen, setzt die Ukraine alles daran, eine durch Russland kontrollierte Landbrücke zwischen der Ostukraine und der Krim zu verhindern.

Wird ihr dies gelingen?

Das hängt davon ab, in welchem Umfang sie militärisch unterstützt wird und von welchen Zielen sich die 40 Regierungen leiten lassen, die der Ukraine schwere Waffen versprochen haben. Es ist noch unklar, ob es darum geht eine Niederlage der Ukraine zu verhindern, oder ihren Sieg zu ermöglichen.

Im Zuge des Krieges ist immer wieder von einer Zeitenwende die Rede. Trifft dies auch auf die Schweizer Sicherheitspolitik zu?

Auch in der Schweiz wird man sich Grundsatzfragen stellen müssen. Doch zunächst geht es darum, aus dem reaktiven Krisenmodus herauszukommen und über die Tagesereignisse hinauszusehen. Das tönt wenig spektakulär. Es ist aber in einer sehr dynamischen und moralisch aufgeladenen Lage, wie wir sie jetzt gerade durchleben, leichter gesagt als getan.

Warum?

Das Denken in Szenarien, die Entwicklung einer Gesamtstrategie, der Umgang mit Zielkonflikten stellt für ein dezentrales politisches System wie die Schweiz eine anhaltende Herausforderung dar. Bundesrat, Verwaltung, Parlament und Parteien sind jetzt gefordert, den Blick vermehrt auf eine vertiefte Analyse der mittelfristigen Folgen des Krieges für das globale und europäische Umfeld der Schweiz zu richten.

«Die Politik muss ein neues Verständnis dafür entwickeln, was Verteidigen heute bedeutet.»
Andreas Wenger

Worauf muss sich die Schweiz einstellen?

Sie wird sich auf eine konfrontative europäische Sicherheitsordnung einstellen müssen, wie ihre Nachbarn auch. Der Krieg zeigt ausserdem, wie stark die Sicherheit Europas nach wie vor von der Beteiligung der USA im Rahmen der Nato abhängt. Das Bündnis wird sich in Zukunft noch stärker auf die Abschreckung Russlands und die Verteidigung der Ostflanke konzentrieren.

Der Schweizer Armeechef warnte kürzlich, dass die Armee das Land nicht über längere Zeit verteidigen könne. Wie konnte es dazu kommen?

Die Fähigkeit einen bewaffneten Angriff abzuwehren wurde in den letzten 20 Jahren auf ein Minimum reduziert. Als Reaktion auf den zu Ende gehenden Kalten Krieg wurden zunächst die finanziellen und personellen Ressourcen der Armee wie überall in Europa stark gekürzt. Dann folgten die Terroranschläge vom 11. September und die internationalen, US-geführten Militärinterventionen in Afghanistan und im Irak. In der Folge verschob sich der Fokus der Schweizer Sicherheitspolitik zunehmend auf die innere Sicherheit. Dies erklärt, wieso die derzeitige Armee stark auf subsidiäre Einsätze zugunsten der zivilen Behörden ausgerichtet ist.

Muss die Schweiz in Zukunft wieder mehr Geld für ihre Armee ausgeben?

Auch in der Schweiz hat in den vergangenen Wochen der politische Wille zugenommen, das Verteidigungsbudget zu erhöhen. Allerdings hat die Trendwende im Parlament hin zu einem moderat steigenden Finanzrahmen für die Armee bereits nach der russischen Annexion der Krim 2014 eingesetzt.

Wie sollen diese zusätzlichen Mittel investiert werden?

Gerade weil mehr Geld für die Armee zur Verfügung stehen dürfte, muss die Politik klarer definieren, in welche Richtung sich die Fähigkeiten der Armee langfristig entwickeln sollen. Im Kern geht es um nichts weniger als die Rückkehr der Verteidigungspolitik in die Schweizer Sicherheitsstrategie. Die Politik muss ein neues Verständnis entwickeln, was Verteidigen heute bedeutet.

Gegen welche Bedrohungen muss die Schweiz in Zukunft gerüstet sein?

Das klassische Bild eines Panzervorstosses über die Grenzen der Schweiz ist auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sehr unwahrscheinlich. Die staatliche Handlungsfähigkeit kann aber weiterhin durch terroristische Gruppierungen, durch politische Desinformation, aber auch durch politische und wirtschaftliche Erpressung herausgefordert werden. Darüber hinaus können Angriffe über grosse Distanzen hinweg, beispielsweise mit Raketen, oder auch im Cyberspace erfolgen.

Von diesen Bedrohungen wäre die Schweiz wohl kaum allein betroffen.

Richtig, aufgrund ihrer Binnenlage. Bereits der sicherheitspolitische Bericht 1973 hielt fest, dass die Schweiz in den meisten Konfliktsituationen nicht das alleinige Ziel eines Gegners sein würde. Was bereits im Kalten Krieg einer realistischen Einschätzung entsprach, gilt im erweiterten Bedrohungskontext des 21. Jahrhunderts erst recht.

Was heisst das für die Schweizer Sicherheitspolitik?

Zum einen nimmt die Bedeutung der internationalen Sicherheits- und Verteidigungskooperation weiter zu. Wir sollten aber nicht vergessen, dass die Schweiz in vielen Bereichen – von der Friedensförderung bis hin zur europäischen Zusammenarbeit in den Bereichen Polizei, Justiz und Grenzen – ihr internationales Engagement in den vergangenen 30 Jahren bereits stark ausgebaut hat. Zum anderen steigt in einem Umfeld, das von geopolitischen Spannungen zwischen Atommächten geprägt ist, die Nachfrage nach Mechanismen der Risikoreduktion. Hier kann die Schweiz mit ihrem Engagement und ihrer Erfahrung in den Bereichen Gute Dienste, Dialogpolitik und bei der Rüstungskontrolle einen Beitrag leisten.

«Die Bedeutung der internationalen Sicherheits- und Verteidigungskooperation für die Schweiz nimmt weiter zu.»
Andreas Wenger

Wie wichtig ist die internationale Kooperation der Armee für die Sicherheit der Schweiz?

Eine engere Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich ist aufgrund der Technologieentwicklung und der begrenzten Finanzen für alle europäischen Armeen von steigender Bedeutung. So auch für die Schweiz. Die Schweizer Armee kooperiert schon seit vielen Jahren mit anderen europäischen Armeen. Die engsten Beziehungen unterhält sie mit den Nachbarstaaten. Mit der Nato arbeitet die Schweiz bereits seit mehr als 25 Jahren zusammen, um die Interoperabilität – die Befähigung zur militärischen Zusammenarbeit – sicherzustellen und einzuüben.

Und mit der EU?

Weil sich die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU bisher nur sehr langsam entwickelte, ist die Zusammenarbeit mit der EU im Verteidigungsbereich jünger und viel weniger ausgeprägt.

Politiker und Kommentatoren fordern entweder eine engere Anbindung an die Nato oder die EU. Was ist wichtiger?

Während die Nato für die Verteidigung Europas unerlässlich bleibt, ist die EU in Sachen Forschung und Rüstung und in weiteren sicherheitsrelevanten Bereichen wie der Wirtschaft und Energie ein wichtiger Partner. Aber man sollte die verschiedenen Kooperationsgefässe für die Armee auf der politischen Ebene nicht gegeneinander ausspielen.

Das müssen Sie erklären.

Die Zusammenarbeit zwischen Nato und EU intensiviert sich derzeit rasant. Alle europäischen Staaten orientieren sich mittlerweile an denselben Prinzipien und Standards der Technologie- und Fähigkeitsentwicklung. Dies hat zur Folge, dass sich die bilateralen und multilateralen Kooperationsaktivitäten der Schweizer Armee mit diesen Staaten zunehmend ergänzen. Dadurch erhöht sich der Spielraum für eine pragmatische Verteidigungskooperation mit zwischenstaatlichem Charakter.

Ist eine engere Kooperation im Verteidigungsbereich mit der Schweizer Neutralität vereinbar?

Das Neutralitätsrecht setzt der Kooperation im militärischen Bereich gewisse Grenzen: kein Bündnisbeitritt, keine bindenden Verpflichtungen in Friedenszeiten, keine direkte Unterstützung kriegsführender Staaten. Grundsätzlich steht die Neutralität einer pragmatischen Verteidigungskooperation aber nicht im Wege. Voraussetzung ist allerdings, dass alle politischen Kräfte in der Schweiz den neutralitätspolitischen Spielraum nutzen wollen, um die Fähigkeit der Armee, im Krisenfall mit internationalen Partnern zusammenzuarbeiten, sicherzustellen.

Sind der internationalen Ausrichtung einer Milizarmee nicht auch praktische Grenzen gesetzt?

Ja, das wird oft übersehen. Das Dienstleistungs- und Ausbildungsmodell der Milizarmee setzt der praktischen Militärkooperation Grenzen, gerade mit Blick auf die Teilnahme an internationalen Übungen.

Sollte die Schweiz ihre Neutralität grundsätzlich überdenken?

Die Schweiz hat ihre Neutralität immer flexibel an das sich verändernde Umfeld angepasst. Historisch erfolgten solche Anpassungen allerdings erst, wenn sich der Nebel des Krieges zu lichten begann und die Konturen einer neuen Sicherheitsordnung sichtbarer wurden. Während vergangener Kriege so wie auch heute konzentrierte sich die politische Debatte auf die mit dem Neutralitätsrecht verbundenen Zielkonflikte. Also etwa die Übernahme von Sanktionen, die Zulässigkeit von militärischen Überflügen und Transporten sowie auf Waffenexporte. Demokratiepolitisch ist das wünschenswert.

«Die Schweiz hat ihre Neutralität immer flexibel an das sich verändernde Umfeld angepasst.»
Andreas Wenger

Das klingt so, als würde der Kern der Neutralität auch diese Krise überstehen.

Die Schweiz wird an der Neutralität festhalten, allein schon, weil sie ein fester Bestandteil ihrer politischen Identität ist. Angesichts der zunehmenden Rivalität der Grossmächte und als Nichtmitglied der Nato und der EU macht dies auch Sinn. Das heisst aber nicht, dass die Bedeutung der Neutralität nicht grundsätzlich überdacht werden soll.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?

Zum einen stellt sich die Frage nach der Anpassung der neutralitätspolitischen Richtlinien. Ich würde erwarten, dass die Schweiz den 1993 eingeschlagenen Weg der engagierten Neutralität weiterverfolgt. Das heisst, dass Sanktionen gegen einen Bruch des Völkerrechts auch ausserhalb der Uno übernommen werden können, wenn sie eine dem Frieden dienende Ordnungsfunktion haben. Letztlich wird es aber eine politische Güterabwägung bleiben, was dies im konkreten Fall heisst.

Und darüber hinaus?

Es gilt zu prüfen, wie relevant das auf das Jahr 1907 zurückgehende Neutralitätsrecht heute noch ist. In militärischer Hinsicht schützt die Neutralität nur begrenzt gegen Cyberangriffe und hochmoderne Abstandswaffen wie Marschflugkörper. Und in politischer Hinsicht besteht keine Pflicht des Neutralen zur ideologischen oder wirtschaftlichen Neutralität, aber genau in diesen Bereich werden Konflikte immer stärker ausgetragen. Für die Zukunft heisst dies noch mehr als bisher: Die Neutralität kann in der Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz nur ein Mittel unter vielen sein.

Zur Person

Andreas Wenger ist Professor für schweizerische und internationale Sicherheitspolitik und Direktor des Center for Security Studies an der ETH Zürich.

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