Schutz, Stabilität und Schönheit
Annette Spiro wird nach 15 Jahren als Professorin für Architektur und Konstruktion emeritiert. Mit ihren Lehrveranstaltungen und Publikationen hat sie eine ganze Generation von Studierenden an der ETH Zürich für die Architektur begeistert.
Was hat ein Hut mit Architektur zu tun? Wer bei ETH-Professorin Annette Spiro den Grundkurs für Architektur und Konstruktion im ersten Studienjahr belegt hat, weiss: Alles. Die Studierenden müssen vom eigenen Kopf ausgehend Mass nehmen, das zugeloste Material zu einer ansprechenden Form verbinden und anschliessend aus dem Hut eine Hütte bauen. «Die Transformation vom Hut zur Hütte befreit die angehenden Architekt:innen nicht nur von unreflektierten architektonischen Vorbildern und Annahmen, sondern führt sie auch an drei elementare Themen der Architektur heran: Schutz, Stabilität und Schönheit», so Spiro.
Mit Übungen wie dieser sensibilisiert die ETH-Professorin ihre Studentinnen und Studenten seit über 15 Jahren für den Zusammenhang von Material, Konstruktion und Form. Einer ganzen Generation von Architekt:innen hat sie so ihre Begeisterung für das Entwerfen vermittelt. Die von ihr entwickelten didaktischen Konzepte gehören heute zum fixen Bestandteil von Einführungskursen in die Architektur.
Von Basel nach Brasilien
Annette Spiro, die 1957 in Thusis im Kanton Graubünden geboren wird, kommt auf Umwegen zur Architektur. Während einer dreijährigen Ausbildung zur Gold- und Silberschmiedin an der Hochschule für Gestaltung hilft sie ihrer Schwester, die damals bereits Architektur studiert, beim Modellbauen. Dabei entdeckt sie ihre eigene Begeisterung für das Fach und entscheidet sich 1982 für ein Architekturstudium an der ETH Zürich. Ihre Leidenschaft für das Handwerkliche wird sie auch als Architektin nie ablegen.
Nach ihrem Studium arbeitet sie bei Guillermo Vazquez Consuegra in Sevilla und bei Herzog und de Meuron in Basel, bevor sie sich 1990 gemeinsam mit ihrem Mann Stephan Gantenbein entscheidet, Job und Wohnung zu kündigen und nach Brasilien auszuwandern. Doch das Brasilien der frühen 1990er Jahre ist kein leichtes Pflaster für Architekt:innen. Eine grosse Wirtschaftskrise lähmt das Land. Die beiden halten ein Jahr durch, bevor sie in die Schweiz zurückkehren.
Das jähe Ende der Auswanderungsträume ist aber auch ein neuer Anfang für Spiro: Gemeinsam mit ihrem Mann und Partner gründet sie 1991 ihr eigenes Büro. Der Durchbruch gelingt dem Duo 1994 mit der Erweiterung und dem Umbau des Landwirtschaftsbetrieb Hümpelihof in Füllinsdorf, für den sie die Auszeichnung für gute Bauten des Kantons Basel-Land gewinnen.
Begeisterung für Paulo Mendes da Rocha
Brasilien lässt Spiro auch in der Schweiz nicht ganz los. Der Grund dafür ist der Architekt Paulo Mendes da Rocha. Spiro ist begeistert von dessen Bauten und beschliesst, ein Buch über ihn zu schreiben. Neun Jahre wird sie sich an da Rocha abarbeiten, zahllose Absagen von Verlagen erhalten und einen Teil der Produktion aus der eigenen Tasche finanzieren, bevor ihr Band zum späteren brasilianischen Pritzker-Preisträger 2002 erscheint. «Das Projekt hat mir sehr viel Durchhaltevermögen abverlangt», sagt sie heute rückblickend. Trotz aller Hürden ist das Buch ein voller Erfolg und trägt massgeblich zur Bekanntschaft da Rochas in Europa bei.
Die Beschäftigung mit da Rocha prägt Spiro bis heute in ihrer Vorstellung einer direkten, von der tragenden Struktur geprägten Architektur. «Wer Rochas weitgespannte Bauten aus rohem Beton sieht», schreibt sie in einem Nachruf in der NZZ, «ist sofort sprachlos. Das, was trägt, bestimmt immer auch den Raum.»
Die Oase in Oerlikon
Ortstermin im Zürcher Stadtteil Oerlikon: Wie eine Festung steht der rot verputzte, 90 Wohnungen fassende Block zwischen Radrennbahn, Messehalle und Hallenstadion. Ein hartes Pflaster für ein Wohngebäude. Umso überraschender ist, was sich im Innenhof der Siedlung befindet: Eine grüne Oase, die von einer warm wirkenden Holzfassade umrahmt wird. Der Kontrast könnte kaum grösser sein.
«Wir haben ein Gebäude entworfen, das dem harten Umfeld Paroli bietet und eine sanfte Gegenwelt für die Bewohner schafft», erklärt Spiro. 2001 bekommt sie gemeinsam mit ihrem Büropartner und Mann Stephan Gantenbein den Zuschlag für die Genossenschaftssiedlung. Für Spiro ist es der zweite eingeladene Wettbewerb, den ihr Büro gewinnt. Ein entscheidender Schritt in ihrer Karriere, der ihr sechs Jahre später auch den Weg an die ETH Zürich ebnen wird.
Doch lässt das Gebäude auch Schlüsse auf Spiros architektonische Handschrift zu? Inwiefern ist es symptomatisch für ihr Schaffen? Die Architektin tut sich mit solchen Fragen schwer. «Jedes Projekt zwingt einen dazu, sich neu auf einen Ort und die Bedürfnisse der Bewohner:innen und der Bauherrschaft einzulassen.»
Baupläne sind Liebesbriefe
Baupläne sind Liebesbriefe, so heisst der Vortrag, mit dem sich Annette Spiro 2007 um die Professur für Konstruktion an der ETH Zürich bewirbt. Entgegen allen Konventionen enthält ihre Präsentation ausschliesslich Baupläne. «Ich wollte damals zeigen, dass Baupläne mehr sind als nur technische Werkzeuge. Sie sind ein einzigartiges Ausdrucksmittel, die Handschrift von Architekt:innen. Die Jury scheint das damals überzeugt zu haben.»
Später trägt sie hundert unterschiedliche Pläne zusammen und kommentiert sie. Das Resultat ist eine umfassende Enzyklopädie des Bauplans, welche Spiro 2013 veröffentlicht und auf die sie noch heute stolz ist.
Mit der Professur an der ETH tritt Spiro in ihrem Büro etwas kürzer und wendet sich ganz der Lehre und Forschung zu. Ihr Lehrstuhl ist für eine praxisnahe Lehre und eine vertiefte Auseinandersetzung mit Baumaterialien bekannt. So baut sie 2010 gemeinsam mit der ETH-Baubibliothek eine Materialsammlung für Architekt:innen auf und bietet 2012 erstmals das Wahlfach «Material-Werkstatt» an, in dem sich Studierende nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch mit Baumaterialien auseinandersetzen können.
Lehm und Putz auf der Spur
Gemeinsam mit ihren Assistent:innen wendet sich Spiro immer wieder Themen zu, die in der Architekturbranche zu wenig Beachtung finden. So auch beim Lehm, der zwar zu den ältesten Baumaterialien gehört, aber im Zuge der Industrialisierung durch Beton verdrängt wurde. Mit Unterstützung des Lehmexperten Martin Rauch bauen ihre Studierenden am Campus Hönggerberg der ETH Zürich ein Pavillion aus Stampflehm-Elementen. Zum ersten Mal gelingt es, ein Gewölbe mit vorgefertigten Lehmteilen zu errichten.
Damit zeigt Spiro, dass Lehm auch für die moderne Architektur ein ernstzunehmender Baustoff sein kann. Die Vorteile liegen für sie auf der Hand: «Stampflehm kommt direkt aus dem Boden, ist voll abbaubar und wird nicht gebrannt, was Energie spart. Das Material sorgt ausserdem für ein gutes Klima im Haus, lässt sich einfach ausbessern und ist wiederverwendbar.» Ob Lehm in Zukunft öfter zum Einsatz kommt, ist allerdings unklar, denn noch ist seine Verwendung mit teurer Handarbeit verbunden und auch kaum normiert.
Neben Lehm beschäftigt sich Spiro mit einem weiteren Material, das kaum auf einer Baustelle fehlt: dem Putz. «Obwohl das Gemisch aus Sand, Kalk und Wasser omnipräsent ist, haben wir festgestellt, dass wir sehr wenig darüber wissen», erklärt Spiro. In einem 2012 erschienen Band zeigt sie, dass die Möglichkeiten des Materials weitaus vielseitiger sind, als es die gängige Anwendungspraxis vermuten lässt. Das Handbuch ist mittlerweile zum Standardwerk für Architek:innen geworden und fehlt in kaum einem Planungsbüro.
Wie man anfängt und aufhört
Um ihre Erfahrung aus 15 Jahren Lehre zusammenzufassen, veröffentlicht Spiro 2018 den Band «A wie Anstiften». Darin widmet sie sich der Frage, wie man Architektur und Konstruktion im ersten Studienjahr lehrt und wie man angehende Architekten für das Entwerfen begeistert.
Das Buch zeigt eindrücklich, dass sich Architekt:innen von Anfang an ständig mit den Grundlagen ihrer Disziplin beschäftigen müssen. «Was hält ein Gebäude zusammen? Wie wird es genutzt? Wie wirkt das Licht? Welche Proportionen haben die Räume? Welchen Einfluss hat das Material auf die Form? Diese Fragen sind für Studierende im ersten Jahr genauso relevant, wie für erfahrene Praktiker:innen», so Spiro.
Bald wird Annette Spiro der ETH Zürich den Rücken kehren. Langweilig wird es der Architektin aber bestimmt nicht: Es wartet eine Gastprofessur an der Universität Cambridge und ein neues Buchprojekt über Innenputze. Und in ihrer Freizeit möchte sie wieder mehr zeichnen und an einer Graphic Novel arbeiten.
Die heimliche Chronistin
Mit Annette Spiro verliert die ETH nicht nur eine begeisterte Dozentin, sondern auch eine heimliche Chronistin ihres Fachs: Denn kaum jemand weiss besser, wie junge Architekt:innen an der ETH Zürich ticken, wie die ETH-Professorin. Seit 2007 beobachtet sie Jahr für Jahr, wie sich das Selbstbild der Studierenden wandelt.
«Die Jungen wollen heute keine Stararchitekt:innen mehr werden, die mit spektakulären Bauten für Aufsehen sorgen. Vielmehr geht es ihnen darum, welchen Beitrag die Architektur zu einer gerechteren, inklusiveren und nachhaltigeren Welt leisten kann», sagt Spiro und fügt hinzu: «Das stimmt mich zuversichtlich».