Wir sollten die Chemie vereinfachen

Martin Scheringer

Eine nachhaltige chemische Industrie muss nicht nur die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen, sondern auch ihren Toxizitäts-Fussabdruck verringen. Das ist machbar, wenn die Industrie ihre Produktepalette reduziert, erklärt Martin Scheringer.

Wie viele Industriezweige muss auch die chemische Industrie nachhaltiger werden und unter anderem ihren CO2-Fussabdruck verkleinern. In der chemischen Industrie ist die Situation jedoch besonders kompliziert, denn neben dem CO2- oder Klima-Fussabdruck ist auch ihr Toxizitäts-Fussabdruck von Bedeutung. Er steht für die toxischen Wirkungen der Chemikalien, die aus chemischen Produktionsprozessen und aus chemischen Produkten freigesetzt werden. Beispiele für solche Substanzen sind die Perfluoroktansäure (PFOA) oder das Alternativprodukt zu PFOA, GenX, die bei der Produktion von Fluorpolymeren wie Teflon eingesetzt werden, ausserdem Weichmacher und UV-Absorber für Kunststoffe, Flammschutzmittel oder UV-Filter in Sonnencrèmes.

«Eine verlässliche Bewertung aller Substanzen auf dem Markt ist gar nicht möglich.»
Martin Scheringer

Der Toxizitäts-Fussabdruck stand bisher nicht im Zentrum der Nachhaltigkeits-Diskussion. Über die letzten Jahrzehnte hat er sogar zugenommen.1, 2, 3 Zudem haben CO2-Fussabdruck und Toxizitäts-Fussabdruck nur bedingt miteinander zu tun. Wenn die chemische Industrie zur Reduktion ihres CO2-Fussabdrucks weniger fossile Rohstoffe verwendet und die Produktionsprozesse energieeffizienter gestaltet, führt das nicht zwingend zu einer Reduktion des Toxizitätsproblems.

Doch wie lassen sich diese beiden Fussabdrücke trotzdem gemeinsam vermindern? Eine Möglichkeit besteht darin, die Menge und Anzahl der chemischen Produkte auf dem Markt zu vermindern.

In den Industrieländern gibt es eine gesetzliche Chemikalienregulierung, welche für die kommerziell vertriebenen Chemikalien die Risiken für Mensch und Umwelt erfassen soll. Allerdings sind so viele unterschiedliche Substanzen im Umlauf (je nach Schätzung mehrere 10'000 oder gar mehrere 100'000)4, dass die Risikobewertung für viele davon nur rudimentär durchgeführt worden ist und viele toxische Wirkungen nur unzureichend erfasst werden.5

Zahlreiche chemische Strukturformen
Mehrere 10'000 oder gar mehrere 100'000 verschiedene chemische Substanzen sind im Umlauf. Martin Scheringer plädiert für eine Reduktion. (Bild: Adobe Stock)

Insgesamt ist die Komplexität des Problems – die Vielzahl der Substanzen und die Vielzahl aller ihrer Wirkungen auf die Organismen und Ökosysteme der Erde – so gross, dass eine verlässliche Bewertung aller Substanzen auf dem Markt gar nicht möglich ist.5 Wie die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, sind auch Verfahren zur halb-automatisierten Bewertung von Stoffen (high throughput) nicht leistungsfähig genug, dieses Problem zu lösen.

Weniger Chemikalien besser untersuchen

Um das Problem lösbar zu machen – und damit auch den Toxizitäts-Fussabdruck zu vermindern – ist es nötig, in der chemischen Forschung und in der Materialwissenschaft eine «Chemical Simplification» zum Ziel zu machen, also «die Chemie zu vereinfachen». Konkret geht es darum, die Anzahl der Chemikalien, die in Materialien eingesetzt werden, zu vermindern. Die Idee ist, weniger unterschiedliche Chemikalien einzusetzen, diese dafür hinsichtlich ihrer Umwelttoxizität eingehender zu untersuchen.5, 6

Dass eine solche Vereinfachung möglich wäre, zeigt das Beispiel Backpapier, welches mit Hilfe fluorhaltiger Imprägniermittel fettabweisend gemacht wird. Es ist jedoch auch möglich, allein durch die Art und Weise, wie das Holz in der Papiermühle gemahlen und für die Papierherstellung aufgeschlossen wird, fettabweisendes Papier herzustellen, also ohne jeden Zusatz fettabweisender Chemikalien.

Nicht innovationsfeindlich

Der Verzicht auf eine Vielzahl von Materialien und Produkten könnte aus Sicht der chemischen Industrie als innovationsfeindlich wahrgenommen werden. Eine umfassendere Betrachtung zeigt jedoch, dass dies gerade nicht der Fall ist. Eine Chemical Simplification ist nicht möglich ohne umfassende Innovationen im Produkt-Design und entsprechende Forschung und Entwicklung. Sie macht Wirtschaft und Gesellschaft «chemikalieneffizienter» und entspricht einem gesellschaftlichen und ökonomischen Bedarf: Neue, chemisch einfacher aufgebaute Materialien und Produkte lassen sich mittels Patenten schützen und generieren damit auch ökonomischen Mehrwert.

Viele Anbieter von Konsumentenprodukten haben es sich zum Ziel gesetzt, schadstoffarme oder -freie Produkte anzubieten, und sind bereit, ihre Produktion entsprechend umzustellen. Damit bietet die Chemical Simplification einen vielversprechenden Weg, gleichzeitig den Toxizitäts- und den Klima-Fussabdruck der chemischen Industrie zu vermindern.

1 Bernhardt ES, Rosi EJ, Gessner MO: Synthetic chemicals as agents of global change. Frontiers In Ecology and the Environment 2017, 15: 84, doi: externe Seite 10.1002/fee.1450

2 Schulz R, Bub S, Petschick LL, Stehle S, Wolfram J: Applied pesticide toxicity shifts toward plants and invertebrates, even in GM crops. Science 2021. 372: 81, doi: externe Seite 10.1126/science.abe1148

3 externe Seite UNEP: Global Chemicals Outlook II (GCO-II). United Nations Environment Programme, Geneva. 2019

4 Wang Z, Walker GW, Muir DCG, Nagatani-Yoshida K: Toward a Global Understanding of Chemical Pollution: A First Comprehensive Analysis of National and Regional Chemical Inventories, Environmental Science & Technology 2020. 54: 2575, doi: externe Seite 10.1021/acs.est.9b06379

5 Fenner K, Scheringer M: The Need for Chemical Simplification As a Logical Consequence of Ever-Increasing Chemical Pollution, Environmental Science & Technology 2021. 55: 14470, doi: externe Seite 10.1021/acs.est.1c04903

6 Kümmerer K, Clark JH, Zuin VG: Rethinking chemistry for a circular economy, Science 2020. 367: 369, doi: externe Seite 10.1126/science.aba4979

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