Ein Tag allein genügt nicht
Zum «Sexual Harassment Awareness Day» der Hochschulen analysiert Vize-Präsidentin Julia Dannath die Situation an der ETH Zürich, erklärt, was anonyme Meldungen bewirken können und was nicht und sagt, was es aus ihrer Sicht am meisten braucht, um sexuelle Belästigung wirksam zu bekämpfen.
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Heute machen die Schweizer Hochschulen zum ersten Mal gemeinsam auf sexuelle Belästigung im universitären Kontext aufmerksam.1 Bei mir löst dieser Tag gemischte Gefühle aus. Ein Teil von mir ist dankbar, dass heute dieses wichtige Thema im Fokus steht. Gleichzeitig bin ich enttäuscht, dass wir im Jahr 2023 noch nicht weiter sind. Es ärgert mich, dass wir offenbar immer noch Awareness-Tage brauchen, um ein Problembewusstsein für sexuelle Belästigung zu schaffen.
Wer etwas verändern will, muss zuerst das Problem erkennen. Erst dann kann man es bekämpfen. Aus Befragungsstudien des Bundes2, die letztes Jahr erschienen sind, wissen wir, dass zwischen 20 und 60 Prozent der Frauen in der Schweiz in ihrem Leben schon einmal eine sexuelle Belästigung erlebt haben, davon zwischen 2 und 10 Prozent während den letzten zwölf Monaten. Diese Ergebnisse belegen eindeutig, dass sexuelle Belästigung ein grosses und weitverbreitetes Problem ist. Es geschieht jeden Tag, im Grossen und im Kleinen, quer durch gesellschaftliche Milieus, über Geschlechtergrenzen und Generationen hinweg. Es passiert überall – auch an der ETH Zürich.
«Die ETH Zürich hat eine Nulltoleranz gegenüber sexueller Belästigung und wird diese auch durchsetzen.»Julia Dannath
Natürlich kann ich nicht die ganze Gesellschaft ändern, aber als Vizepräsidentin für Personalentwicklung und Leadership bin ich dafür verantwortlich, dass wir alles daransetzen, die Situation an der ETH zu verbessern und ein Klima zu schaffen, das sexuelle Belästigung möglichst verhindert. Für die Schulleitung ist klar: Die ETH Zürich hat eine Nulltoleranz gegenüber sexueller Belästigung und wird diese auch durchsetzen.
Mängel konkret angehen – ständig
Wir wissen: Ein starkes Machtgefälle und ausgeprägte Hierarchien sind Risikofaktoren, die sexuelle Belästigung begünstigen können. Diese Risikofaktoren findet man an Hochschulen – die ETH ist da keine Ausnahme. Nicht nur der heutige Tag gegen sexuelle Belästigung zeigt, dass Schweizer Hochschulen unterdessen verstanden haben, dass sie dieses Thema aktiv angehen müssen und sie nicht wegschauen dürfen.
Wir arbeiten an der ETH Zürich seit einigen Jahren durch Kampagnen, Anlauf- und Beratungsstellen sowie Schulungen intensiv daran. Ziel dabei ist immer eine höhere Sensibilisierung und schliesslich ein Kulturwandel in der ETH. Bei all diesen positiven Entwicklungen ist aber auch klar: Auch wenn wir schon viel getan und erreicht haben – der Kampf gegen sexuelle Belästigung ist nie zu Ende. Was es braucht, ist eine ständige, aktive Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle Belästigung und ein kontinuierliches Hinzulernen und Anpassen, wo wir an der ETH die Situation noch verbessern können.
Noch niederschwelliger melden
Aber wie erkennen wir, wo es allenfalls brennt an der ETH? Reichen dafür unsere Anlauf- und Beratungsstellen, oder brauchen wir noch andere Instrumente? Diese Fragen stellen sich mein Team und ich intensiv. Wir haben erkannt, dass die Schwelle, sich bei der ETH zu melden, wenn sexuelle Belästigungen vorkommen, noch niedriger sein muss. Wir werden deshalb auf Anfang April ein Online-Formular aufschalten, bei dem sich Menschen anonym melden können, wenn sie sexuelle Belästigung – sei es als betroffene Person, sei es als Zeuge oder Zeugin – an der ETH erlebt haben.
Was uns bei diesem neuen Projekt besonders wichtig ist: Wir ermuntern die Menschen, die sich anonym melden, uns zu sagen, was wir verbessern könnten, Vorschläge zu machen. Wir sind davon überzeugt, dass diese Menschen aus ihrer Erfahrung heraus viel beizutragen haben. Das Ziel dieser Erhebung ist, die ETH als Organisation weiterzuentwickeln, zu sehen, wo wir unser Issue-Management verstärken müssen, wo wir präventiv aktiv werden sollten.
«Nur wenn wir als Institution von Belästigungen wissen, können wir sie auch bekämpfen.»Julia Dannath
Unsere bewährtes Beratungsangebote bleiben dabei natürlich bestehen. Für die vertrauliche Beratung von Betroffenen haben wir verschiedene interne und externe Anlauf- und Beratungsstellen. In dieser «informellen Phase» hören wir den Betroffenen zu und zeigen ihnen Optionen zum möglichen weiteren Vorgehen auf. Grundsätzlich entscheidet hier die betroffene Person über die nächsten Schritte. Des Weiteren gibt es die Möglichkeit, einen Vorfall bei der Meldestelle schriftlich zu melden und damit ein formelles Verfahren einzuleiten. Im akuten Fall eines Übergriffs ist zudem unsere Sicherheitszentrale Tag und Nacht erreichbar und zuständig. Alle Informationen zum Beratungsangebot finden Sie hier.
Anonyme Meldungen – die Lösung?
Da anonyme Meldungen oft als Allerheilsmittel gegen sexuelle Belästigung und Übergriffe angepriesen werden, ist es mir ein grosses Anliegen auch klar und deutlich zu sagen, was anonyme Meldungen nicht leisten können:
Erstens: Ohne beschuldigende Person – kein Verfahren. Will heissen: Um einen formellen Prozess gegen eine Person auszulösen, braucht es im Schweizer Rechtssystem zwingend eine beschuldigende Person, die mit ihrem Namen hinsteht. Keine Institution darf auf anonyme Meldungen hin die Beschuldigten kontaktieren, Akten anlegen oder gar Massnahmen treffen. Unser Rechtssystem verpflichtet uns dazu, beschuldigte Personen über die Beschuldigung zu informieren und dazu, dass diese dazu Stellung nehmen dürfen. Ich möchte keinesfalls bei Betroffenen den Eindruck erwecken, bei einer anonymen Meldung gehe die ETH gegen Beschuldigte vor, obwohl dem nicht so ist. Deshalb wird es auf dem Online-Meldeformular auch nicht möglich sein, jemanden namentlich zu beschuldigen.
Wichtiger Mosaikstein
Und ein zweiter Punkt: Wir sind uns bewusst, dass die Aussagekraft eines auf solchen anonymen Meldungen beruhenden Datenpools begrenzt ist. Mal abgesehen davon, dass wir nicht verhindern können, dass das Formular auch missbräuchlich ausgefüllt wird, können diese anonymen Meldungen allein nie und nimmer die ganze Situation an der ETH wiedergeben. Wir brauchen zuerst einen Erfahrungswert, wie Menschen diese neue Möglichkeit nutzen.
«Ich möchte in einer Gesellschaft leben, an einer Hochschule arbeiten, wo Menschen weder sexuell noch sonst diskriminiert und belästigt werden.»Julia Dannath
Zudem sehe ich diese Meldungen als einen wichtigen Mosaikstein in einer ganzen Reihe von Tools, die wir haben müssen, um herauszufinden, wie ETH-Angehörige die Situation an unser Hochschule wahrnehmen. Das heisst konkret: Wir werden die Erfahrungen unserer Anlauf- und Beratungsstellen, Ergebnisse aus Umfragen und auch die eingegangenen anonymen Meldungen noch besser miteinander verknüpfen, um ein umfassenderes Bild zu bekommen, wo wir in unserm Kampf gegen sexuelle Belästigung stehen und wo wir noch Massnahmen treffen müssen.
Gemeinsames Engagement
Ich möchte in einer Gesellschaft leben, an einer Hochschule arbeiten, wo Menschen weder sexuell noch sonst diskriminiert und belästigt werden. Ich werde alles dafür tun, dass die ETH als Institution ihren Beitrag dazu leistet. Nur, sexuelle Belästigung geht uns alle an – es ist nicht nur ein Thema der Institution, sondern ein Thema für jeden und jede einzelne von uns. Helfen Sie aktiv mit, die ETH zu einem Ort zu machen, an dem niemand belästigt wird. Nur wenn wir als Institution von Belästigungen wissen, können wir sie auch bekämpfen. Melden Sie sich bei unseren Anlauf- und Beratungsstellen, wenn sie sexuelle Belästigung erfahren oder beobachten. Sie können das anonym, vertraulich oder mit einer formellen Meldung machen – wie immer Sie sich entscheiden, wir unterstützen Sie; es gibt verschiedene Optionen.
Das Wichtigste: Engagieren Sie sich persönlich gegen sexuelle Belästigung, bevor es überhaupt dazu kommt. Entscheidender als alle Massnahmen, welche die Justiz oder die Institutionen je ergreifen könnten, ist ein Umdenken – der Wille und eine gelebte Kultur, gemeinsam sexuelle Belästigung nicht (mehr) zu tolerieren – nie mehr. An keinem Tag.
1 Swissuniversities: externe Seite Sexual Harassment Awareness Day 2023 und Programm der ETH Zürich
2 externe Seite Sexuelle Belästigung in der Schweiz: Ausmass und Entwicklung. Bericht des Bundesrates (27. April 2022)