«Europa muss sich unabhängiger von China machen»
Das Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich analysiert jedes Jahr die wichtigsten geopolitischen Trends. Welche Entwicklungen die internationale Politik in Zukunft prägen, erklärt Oliver Thränert, der Leiter des Think Tanks am CSS. Ein Gespräch über die Sicherheit Europas und China als Herausforderung für das transatlantische Bündnis.
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Herr Thränert, welches Thema bereitet ihnen am meisten Sorgen?
Oliver Thränert: Der Krieg in der Ukraine überschattet weiterhin die internationale Politik. Wir befinden uns in einer geopolitischen Konfrontation zwischen der Atommacht Russland und den westlichen und anderen Staaten, welche die Ukraine unterstützen. Die Regierung der Vereinigten Staaten sieht darin sogar eine globale Konfrontation zwischen Demokratien und Autokratien, da China sich hinter Russland gestellt hat.
Aber viele Demokratien im globalen Süden wie Indien, Brasilien oder Südafrika sehen sich weder im russisch-chinesischen noch im westlichen Lager.
In diesem Punkt hat die US-amerikanische Sicht ihre Schwächen. Wir haben uns in den «Strategic Trends 2023» Indien genauer angesehen: Die indische Regierung hat sich geweigert, den russischen Angriff auf die Ukraine öffentlich zu verurteilen. Indien ist militärisch weiterhin auf russische Waffen angewiesen und wirtschaftlich stark von China abhängig. Gleichzeitig ist Delhi aber an einer guten Beziehung zu Washington gelegen. Nimmt man diese Punkte zusammen, kann man die unscharfe und manchmal wechselhaft erscheinende Haltung Indiens besser verstehen.
Zurück nach Europa: Vor allem in Deutschland war nach dem russischen Angriff oft von einer Zeitenwende die Rede. Gab es diese tatsächlich?
Wir beginnen in Europa zu realisieren, dass wir uns auf einen längeren Konflikt mit Russland einstellen müssen. Das heisst, dass wir dem Militär im Unterschied zu den vergangenen 30 Jahren viel mehr Beachtung schenken müssen. Wir müssen uns wieder auf unsere Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit konzentrieren.
Das bedeutet?
Nur wenn wir militärisch in der Lage sind, uns zu verteidigen und unsere Abschreckung glaubwürdig zu gestalten, können wir vor Angriffen beispielsweise von Russland einigermassen sicher sein. Vor allem jüngere Generationen, die den Kalten Krieg nicht miterlebt haben, müssen diesen traurigen Umstand neu lernen. In Deutschland ist das besonders schwierig, da der Wunsch, alles Militärische in den Hintergrund zu drängen, sehr stark ist.
Wie sicher ist Europa heute überhaupt?
Russland ist die grösste Atommacht der Welt. Ungeachtet seiner Verluste in der Ukraine bleibt es eine Bedrohung für Europa. Das bedeutet wiederum, dass Europas Sicherheit davon abhängt, wie geschlossen die Nato auftritt und wie glaubhaft die nukleare Abschreckung durch die USA und auch die europäischen Kernwaffenstaaten Frankreich und Grossbritannien ist. Im Baltikum oder in Polen vertraut man weiterhin darauf, dass die USA ihre Atomwaffen im Ernstfall für die Verteidigung des Bündnisgebietes einsetzen würden. Der Krieg in der Ukraine zeigt einmal mehr deutlich: Das transatlantische Bündnis mit den USA ist die Lebensversicherung Europas.
Wie lange wird die USA noch bereit sein, Europa zu beschützen?
Die Biden-Administration verhält sich sehr solidarisch mit Europa. Die USA liefern mit Abstand die meisten Waffen an die Ukraine und tragen die finanzielle Hauptlast. Es ist aber ungewiss, wie lange sich Europa noch auf die USA verlassen kann. Joe Biden wird der letzte US-Präsident sein, der sich Europa biographisch stark verbunden fühlt.
Wovon hängt die Unterstützung der USA in Zukunft ab, wenn es solche Verbindungen nicht mehr geben wird?
Wenn die Amerikaner merken, dass sich Europa nicht auch solidarisch mit den USA zeigt, wenn es um die amerikanischen Interessen gegenüber China geht, könnte das zu erheblichen Belastungen des transatlantischen Verhältnisses führen. Auch wenn Biden nicht wiedergewählt wird und ein Republikaner ins Weisse Haus einzieht, könnte sich die Politik der USA rasch ändern.
Was erwarten die USA im Hinblick auf China von Europa?
Die USA erwarten nicht, dass Europa im Falle einer Invasion Taiwans umfangreichen militärischen Beistand leistet. Es geht eher darum, dass Europa sich in technologischen und wirtschaftlichen Fragen unabhängiger von China macht und im Ernstfall ökonomische Sanktionen mitträgt. Europa muss bereit sein, seine Lieferketten mit China zu diversifizieren, auch wenn das einen Preis hat. Das betrifft auch die Schweiz. Ist Europa dazu nicht bereit, wird es sich Washington zweimal überlegen, Europa in Zukunft militärisch so umfassend zu unterstützen, wie es das gerade macht.
Das heisst: das transatlantische Bündnis wird hier auf die Probe gestellt.
Nicht nur auf die Probe: das mächtige China stellt gemeinsam mit seinem Partner Russland, die westlichen Ordnungsvorstellungen in Frage.
Was sind das für Vorstellungen?
Dieses Netz an Regeln und Institutionen wird oft als liberale oder regelbasierte Weltordnung bezeichnet. Es ist nach dem Zweiten Weltkrieg unter starkem Einfluss der Vereinigten Staat entstanden.
Was zeichnet diese Ordnung aus?
Es handelt sich dabei im Kern um das in der Charta der Vereinten Nationen festgeschriebene Prinzip, dass alle Staaten – egal ob gross oder klein – die gleichen souveränen Rechte haben. Dazu gehört neben der territorialen Unversehrtheit und der Ächtung des Krieges als legitimes Mittel der Politik vor allem auch das Recht sich selbst aussuchen zu können, welchen Bündnissen und Allianzen sich ein Staat anschliesst.
Inwiefern stellen China und Russland diese Prinzipien genau in Frage?
Sie sehen sich als Grossmächte, die einen Sonderstatus haben und sie denken in Einflusssphären. Die Souveränität von Staaten, die sich in diesen Sphären befinden, gilt in den Augen Pekings und Moskaus nur beschränkt. Das trifft auf die Ukraine, Belarus, Moldau und den Kaukasus gleichermassen zu wie auf Taiwan und das Südchinesische Meer.
Was verbindet China und Russland ausser diesem Denken in Einflusssphären?
Was die beiden neben ihrem Status als autokratische Staaten und Atommächte mit permanentem Sitz im UN-Sicherheitsrat vor allem eint, ist die Ablehnung einer von den USA dominierten Welt. China und Russland versuchen gemeinsam den Einfluss der Vereinigten Staaten zurückzudrängen – vor allem in ihrer eignen Nachbarschaft. Sie sind revisionistische Mächte, welche die bestehende Weltordnung zu ihren Gunsten verändern wollen.
Gibt es auch Differenzen zwischen den beiden?
China ist weiterhin nicht bereit, Moskau militärisch zu unterstützen, da es westliche Sanktionen befürchtet, die seine Wirtschaft belasten würden. Es missbilligt auch Russlands Drohungen, Kernwaffen einzusetzen. Hier drängt Peking auf Zurückhaltung, da es fürchtet, dass seine Nachbarn dazu motiviert werden könnten, selbst Atomwaffen anzuschaffen.
Sind Russland und China gleichwertige Partner?
China ist mit seiner wirtschaftlichen Macht ganz klar der stärkere Partner. Russland läuft längerfristig Gefahr, sich zu stark von China abhängig zu machen. Was Moskau im Westen an Kunden für sein Gas verliert, will es im Osten – vor allem in China – zurückgewinnen.
Welche Folgen hat das?
Chinas Einfluss auf Russland steigt. Russland teilt auch eine lange Grenze mit China. Während die russische Bevölkerungssdichte entlang dieser Grenze immer dünner wird, nimmt die chinesische Bevölkerung auf der anderen Seite der Grenze weiterhin zu. Auch das macht Russland verwundbar gegenüber China.
Strategic Trends 2023
Die Publikationsreihe «Strategic Trends» des Center for Security Studies der ETH Zürich bietet eine jährliche Analyse wichtiger weltpolitischer Entwicklungen, wobei Fragen der internationalen Sicherheit im Zentrum stehen. Die aktuelle Ausgabe enthält folgende Beiträge:
- China, Russia, and the Future of World Order
- Silicon Curtain: America’s Quest for Allied Export Controls against China
- Alliances and Extended Nuclear Deterrence in Europe and Asia
- How India Navigates a World in Transition
Die Strategic Trends 2023 lesen sie hier.