So steht es um die genetische Vielfalt einheimischer Lebewesen
Die Schweiz möchte die genetische Vielfalt innerhalb verschiedener Organismen in einem langfristigen Monitoring überwachen. In einer Pilotstudie mit Pioniercharakter sammeln Forschende der ETH Zürich erste Erfahrungen.
(Bild: ETH Zürich / Martin C. Fischer)
Das Wichtigste in Kürze
- Die genetische Vielfalt von einheimischen Tier- und Pflanzenarten ist weitgehend unbekannt.
- ETH-Forscher habe ein Pilotprojekt zur Erforschung der genetischen Vielfalt von fünf Arten gestartet.
- Erste Auswertungen zeigen, dass einige Populationen der wenig mobilen Kreuzkröte genetisch verarmt sind.
Die Welt leidet nicht nur an der Klimakrise, sondern auch an einer Biodiversitätskrise. Viele Forschende sprechen bereits von einem Massenaussterben von Arten. Die Gründe dafür sind vielfältig, einer davon ist die Klimaerwärmung, welche die Umweltbedingungen rasant verändert.
Um die biologische Vielfalt zu überwachen und zu bewahren, haben viele Länder entsprechende Programme gestartet. So schuf die Schweiz 2001 das Biodiversitätsmonitoring Schweiz, mit dem auf Hunderten von einem Quadratkilometer grossen Untersuchungsflächen standardisiert die Vielfalt von Arten und von Lebensräumen erfasst und überwacht wird.
Blackbox genetische Vielfalt
Über die Arten- oder Lebensraumvielfalt, die von blossem Auge erfasst werden kann, weiss man in der Schweiz daher recht gut Bescheid. Anders sieht es beim Wissen um die genetische Vielfalt innerhalb von Arten aus. Von blossem Auge kann diese nicht erfasst werden. Es ist somit aufwändiger und technisch herausfordernder, diese zu erheben.
Genetische Vielfalt ist das Rohmaterial für die Evolution und somit die Voraussetzung, dass sich eine Art an eine sich verändernde Umwelt anpassen kann. Wenn wir verstehen, wie sich die genetische Vielfalt innerhalb einer Art verändert und welches die Ursachen dafür sind, trägt das dazu bei, das langfristige Überleben zu sichern. Tier- oder Pflanzenbestände mit einer nur geringen genetischen Variabilität haben ein erhöhtes Aussterberisiko, da sie oft nicht die nötige Widerstandskraft besitzen, um Krankheiten, Krankheitserregern oder Wetterextremen zu trotzen, beziehungsweise auf Umweltveränderungen zu reagieren.
Die fünf Arten
(Bild: Martin C. Fischer / ETH Zürich) Baldrian-Scheckenfalter (Melitaea diamina), Museumsbeleg.
(Bild: Martin C. Fischer / ETH Zürich) Baldrian-Scheckenfalter, Museumsbelege. (Bild: Martin C. Fischer / ETH Zürich) Kreuzkröte (Epidalea calamita). (Bild: Martin C. Fischer / ETH Zürich) Kreuzkröte. (Bild: Martin C. Fischer / ETH Zürich) Karthäuser-Nelke (Dianthus carthusianorum). (Bild: Martin C. Fischer / ETH Zürich) Karthäusernelke ( Dianthus carthusianorum). (Bild: Martin C. Fischer / ETH Zürich)
Nun wollen Forschende der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) diese Wissenslücke schliessen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der ETH-Professur für Ökologische Pflanzengenetik führen derzeit im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) eine Pilotstudie durch, welche die Möglichkeiten ausloten soll, wie die genetische Vielfalt von ausgewählten einheimischen Lebewesen langfristig überwacht werden kann. Die Studie wurde 2020 gestartet und dauert noch bis Ende 2023. Das Projekt hat weltweit Pioniercharakter.
Fünf Arten auf den Zahn gefühlt
In ihrer Pilotstudie beschränkten sich die Forschenden vorerst auf fünf einheimische Tier- und Pflanzenarten: die Kreuzkröte (Epidalea calamita), die Goldammer (Emberiza citrinella), den Baldrian-Scheckenfalter (Melitaea diamina) sowie die Karthäusernelke (Dianthus carthusianorum) und das Scheiden-Wollgras (Eriophorum vaginatum). Diese Arten sind repräsentativ für bestimmte Lebensräume, die für den Naturschutz bedeutend sind, wie Trockenwiesen, Hochmoore, Amphibienlebensräume, Kulturland oder Übergangszonen zwischen Wald und Wiese.
Nach dem Zufallsprinzip wählten die Forscher 30 Standorte pro Art in der ganzen Schweiz aus und nahmen Proben von mehr als 1200 einzelnen Exemplaren, von denen sie im Labor die DNA extrahierten.
Beim Fangen und Sammeln der Goldammer respektive der Kreuzkröte wurden die ETH-Forschenden unterstützt von Fachleuten der Vogelwarte Sempach, der Koordinationsstelle für Reptilien- und Amphibienschutz Schweiz (Karch) und Artenspezialist:innen aus drei verschiedene Ökobüros.
Die DNA der Organismen wurde dann mit spezialisierten Analysengeräten und Hochleistungscomputern der ETH Zürich vollständig Baustein für Baustein entschlüsselt, also sequenziert, was enorme Datenmengen generierte. «Die genetische Information einer einzigen Zelle der Kreuzkröte würde ausgedruckt über 630’000 A4-Seiten füllen. Das würde einen 70 Meter hohen Papierstapel ergeben», sagt Projektleiter Martin C. Fischer aus der Professur für ökologische Pflanzengenetik der ETH.
Um die heutige genetische Variabilität mit derjenigen von um 1900 zu vergleichen, untersuchten die Forschenden auch die DNA von bis zu 200 Jahre alten Belegen aus Herbarien und zoologischen Sammlungen, beschränkten sich dabei aber auf zwei Arten, den Schmetterling und das Wollgras.
Diese Proben mussten sie im Reinraumlabor untersuchen, um Verunreinigungen der sehr geringen Mengen alter DNA zu vermeiden. «DNA in solchen Museumsbelegen ist nur noch in Bruchstücken vorhanden und ähnelt der Qualität eines 10’000 Jahre alten Mammuts im Permafrost», sagt der Biodiversitätsforscher. «Sie zu analysieren, war enorm zeit- und arbeitsaufwändig.» Die Resultate des DNA-Vergleichs stehen zurzeit noch aus.
Vielfalt zwischen Arten und Populationen sehr variabel
Die Forschenden sind nun mit Hochdruck an der Datenauswertung und -aufbereitung. Erste Tendenzen sind aber bereits erkennbar.
So ist die genetische Diversität bei der Goldammer, der mobilsten der untersuchten Arten, im ganzen Land noch ziemlich gleichmässig. Bei der Kreuzkröte hingegen sind einige Populationen genetisch verarmt. Möglicherweise fehlt es Ihnen am Austausch mit benachbarten Beständen, die genetisch vielfältiger sind.
Kreuzkröten bewohnen temporäre Gewässer auf Kies- und Sandbänken, die durch unkorrigierte und dynamische Flüsse entstanden sind. Weil aber solche Lebensräume in der Schweiz sehr selten geworden sind, besiedelt diese Amphibienart Kies- und Lehmgruben sowie militärische Übungsplätze, die oft isoliert in der Landschaft verstreut sind. Dadurch sind sie für Kröten auf der Suche nach neuen Lebensräumen und Partnern unerreichbar – die Bestände durchmischen sich nicht mehr.
«Kleine isolierte Bestände mit tiefer genetischer Vielfalt und hohem Grad an Inzucht haben ein grosses Aussterberisiko», betont Fischer. Schon ein zufälliges Ereignis, wie ein Hitzesommer oder ein neu auftretender Parasit, könne die Art lokal zum Aussterben bringen. Wäre die genetische Vielfalt höher, könnten die Tiere besser mit solchen Zufallsereignissen und neuen Umwelteinflüssen umgehen.
Anders liegt der Fall bei der Kartäusernelke, einer Pflanze, die in Trockenwiesen vorkommt. «Wir haben mehrere genetisch unterschiedliche evolutionäre Linien erkannt», erklärt Fischer. Entstanden sind diese Linien wahrscheinlich während einer der letzten Eiszeiten, die die Art in verschiedenen Refugien ausserhalb der Alpen überdauerte. Von dort wanderten die Nelken nach Abschmelzen der Gletscher wieder in die Schweiz und andere Teile Europas ein.
Zu ihrer Überraschung entdeckten die Forschenden allerdings Pflanzen aus einer weiteren genetischen Linie, die in Osteuropa beheimatet ist und in der Schweiz nicht vorkommen sollte. Diese genetische Variante ist äusserlich nicht von einheimischen Kartäusernelken zu unterscheiden und wird gemäss Fischer mit standortfremdem Saatgut für die Wiederbegrünung bei ökologischen Ausgleichsmassnahmen oder in privaten Gärten ausgesät. Dadurch können sich eingeführte Varianten mit hiesigen Pflanzen kreuzen und genetische Vielfalt einbringen, die sich andernorts unter anderen Umweltbedingungen entwickelt hat und somit standortfremd ist. Das könnte den Bestand schwächen.
«Wie sich die Einkreuzung solcher standortsfremden genetischen Linien auf die einheimischen Pflanzen auswirkt, ist schwer vorherzusagen und muss daher überwacht werden», gibt Fischer zu bedenken. «Leider wird manchmal beim Saatgut für ökologische Ausgleichsflächen und in privaten Gärten nur auf die Artenzusammensetzung geachtet, aber nicht auf den genetischen Ursprung.»
Der Biodiversitätsforscher und seine Mitarbeitenden möchten die Auswertungen bis Ende Jahr abschliessen. Bereits planen sie eine zweijährige Folgestudie, um das Langzeitmonitoring vorzubereiten und weitere Erfahrungen in Bezug auf die standardisierte Datenerhebung, Auswertung und Archivierung zu sammeln. Sein Ziel ist, alle fünf bis zehn Jahre 50 Arten genetisch zu untersuchen. Besonders interessiert sind die Forschenden daran, neu auch Säugetiere wie Fledermäuse, Wald- und Gewässerorganismen, sowie Pilze in das genetische Monitoring aufzunehmen.