Harnstoff reagiert unter Bedingungen, die in der Erdfrühzeit existiert haben, extrem schnell. Diese neue Erkenntnis trägt zum Verständnis bei, wie auf der Erde Leben entstanden sein könnte.
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In Kürze
- Forschende können chemische Reaktionen, die in Flüssigkeiten ablaufen, neu mit hoher zeitlicher Auflösung verfolgen.
- Mit ihrer neuen Methode untersuchten die Wissenschaftler:innen eine chemische Reaktion, die möglicherweise zur Entstehung von Leben auf der Erde geführt hat.
- Die Methode ist nicht nur für die Biochemie von Bedeutung, sondern auch für industriell wichtige Synthesereaktionen.
Forschende der ETH Zürich und der Universität Genf haben eine neue Methode entwickelt, mit der sie chemische Reaktionen, die in einer Flüssigkeit ablaufen, in extrem hoher zeitlicher Auflösung beobachten können: Sie können untersuchen, wie sich die Moleküle innerhalb von wenigen Femtosekunden, also wenigen Billiardstel Sekunden, verändern. Die Methode basiert auf früheren Arbeiten derselben Wissenschaftler:innen rund um Hans Jakob Wörner, Professor für Physikalische Chemie an der ETH Zürich, in denen ihnen Ähnliches bereits für Reaktionen gelungen ist, die in einer Gas-Umgebung ablaufen.
Um nun auch Reaktionen in Flüssigkeiten mit Röntgenspektroskopie untersuchen zu können, mussten die Forschenden eine Apparatur entwickeln, mit der sich im Vakuum ein Flüssigkeitsstrahl mit einem Durchmesser von weniger als einem Mikrometer herstellen lässt. Das war nötig, weil die zur Messung verwendete Röntgenstrahlung in einem breiteren Flüssigkeitsstrahl teilweise absorbiert würde.
Molekularer Wegbereiter der Biochemie
Die Forschenden nutzten die neue Methode, um Einblicke in die Prozesse zu gewinnen, die zur Entstehung von Leben auf der Erde führten. Viele Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass Harnstoff dabei eine zentrale Rolle spielte. Es ist eines der am einfachsten aufgebauten Moleküle, das sowohl Kohlenstoff als auch Stickstoff enthält. Zudem ist es sehr wahrscheinlich, dass Harnstoff bereits in der Frühzeit auf der Erde vorkam. Dies legt auch ein berühmtes Experiment der 1950er-Jahre nahe: Der amerikanische Wissenschaftler Stanley Miller setzte damals ein Gasgemisch, von dem man annahm, dass es der Uratmosphäre der Erde entspricht, den Bedingungen eines Gewitters aus. Dabei entstand eine Reihe von Molekülen, darunter Harnstoff.
Gängigen Theorien zufolge könnte sich der Harnstoff auf der noch unbelebten Erde in warmen Tümpeln – der sogenannten Ursuppe – angereichert haben: Indem dort Wasser verdunstet ist, stieg die Konzentration des Harnstoffes. Unter dem Einfluss ionisierender Strahlung wie zum Beispiel der kosmischen Strahlung könnte sich aus diesem konzentrierten Harnstoff über mehrere Syntheseschritte Malonsäure gebildet haben. Daraus könnten dann die Bausteine der RNA und der DNA entstanden sein.
Warum genau diese Reaktion stattfand
Von dieser langen Abfolge chemischer Reaktionen haben die Wissenschaftler:innen der ETH Zürich und der Universität Genf mit ihrer Methode den ersten Schritt untersucht: Wie sich eine konzentrierte Harnstoff-Lösung verhält, wenn man sie ionisierender Strahlung aussetzt.
«Viele relevante chemische und biochemische Reaktionen finden in Flüssigkeiten statt, sowohl in unserem Körper als auch bei der industriellen Synthese.»Hans Jakob Wörner
Dazu muss man wissen: In einer konzentrierten Harnstoff-Lösung gesellen sich die Harnstoff-Moleküle jeweils paarweise zueinander: Sie bilden sogenannte Dimere. Wie die Forschenden nun zeigen konnten, wandert ein Wasserstoff-Atom unter dem Einfluss der Strahlung innerhalb dieser Dimere von einem Harnstoff-Molekül zum anderen. Aus den beiden Harnstoff-Molekülen entsteht so ein sogenanntes protoniertes Harnstoff-Molekül und ein sogenanntes Harnstoff-Radikal, das chemisch sehr reaktiv ist – so reaktiv, dass es mit grosser Wahrscheinlichkeit mit anderen Molekülen reagiert, unter anderem zu Malonsäure.
Die Forschenden konnten ausserdem zeigen, dass dieser Transfer eines Wasserstoffatoms extrem schnell abläuft und bloss etwa 150 Femtosekunden dauert, also 150 Billiardstel einer Sekunde. «Das ist so schnell, dass diese Reaktion alle anderen Reaktionen, die theoretisch auch noch ablaufen könnten, ausbootet», sagt Wörner. «Und das erklärt, warum sich in einer konzentrierten Harnstoff-Lösung Harnstoff-Radikale bilden und nicht andere Reaktionen ablaufen, die andere Moleküle bilden würden.»
Reaktionen in Flüssigkeit sehr relevant
ETH-Professor Wörner und seine Kolleg:innen möchten in Zukunft auch die nächsten Schritte untersuchen, die zur Bildung von Malonsäure führen. Damit wollen sie versuchen zu verstehen, wie auf der Erde Leben entstanden ist.
Ausserdem wird man die neue Methode auch ganz generell verwenden können, um die präzisen zeitlichen Abläufe von chemischen Reaktionen in Flüssigkeiten nachzuvollziehen. «Sehr viele relevante chemische Reaktionen finden in Flüssigkeiten statt, nicht nur alle biochemischen Prozesse in unserem Körper, sondern auch ganz viele chemische Synthesen, die für die Industrie relevant sind», sagt Wörner. «Daher ist es so bedeutend, dass wir die zeitlich hochaufgelöste Röntgenspektroskopie nun auf Reaktionen in Flüssigkeit ausgeweitet haben».
Neben Forschenden der ETH Zürich und der Universität Genf waren an der Arbeit auch solche des Deutschen Elektronen-Synchrotrons Desy in Hamburg beteiligt. Letztere trugen mit Berechnungen zur Interpretation der Messdaten bei.
Literaturhinweis
Yin Z, Chang YP, Balčiūnas T, Shakya Y, Djorović A, Gaulier G, Fazio G, Santra R, Inhester L, Wolf JP, Wörner HJ: Femtosecond Proton Transfer in Urea Solutions Probed by X-ray Spectroscopy, Nature, 28. Juni 2023, doi: externe Seite 10.1038/s41586-023-06182-6