Die moderne Abenteurerin
Sie ist Analog-Astronautin, Pilotin und unternimmt Expeditionen auf Forschungsschiffen. Angefeuert hat die unbändige Entdeckerlust der Alumna Sandra Herrmann unter anderem die ETH Zürich.
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«Hoffentlich passiert in der Zwischenzeit meiner Familie nichts», dachte sich Sandra Herrmann, als sie die fünf Stufen der Aluminiumtreppe erklomm, die sie in die runde Raumkapsel der Nasa führten. 45 Tage mit drei Personen auf engstem Raum. Einziger Kontakt zur Aussenwelt: die Stimmen der Mission Control und ein wöchentlicher Anruf oder eine E-Mail von zu Hause. Von Januar bis März 2023 engagierte sich die ETH-Alumna zum ersten Mal als sogenannte Analog-Astronautin. Dabei lebte sie nach dem Tagesprogramm der ISS in einer Raumkapsel im Johnson Space Center der Nasa in Houston, Texas. Mit solchen Simulationen gewinnt die Wissenschaft neue Erkenntnisse über die optimalen Abläufe, Herausforderungen und Gruppeneffekte bei Weltraummissionen. «Ich wollte meine eigenen Grenzen testen und zugleich die Wissenschaft vorantreiben», sagt Herrmann über ihre Teilnahme.
ETH kultiviert Offenheit
Mit neuen Erfahrungen immer wieder den eigenen Horizont erweitern: Dieses Motto zieht sich durch das gesamte Leben der aktiven Alumna, die in ihrer Freizeit die luftigen Höhen mit dem Flugzeug erkundet. An ihrem Entdeckerdrang ist die ETH nicht ganz unschuldig: «Meine Doktoratszeit an der ETH hat mich darin bestärkt, vielfältige Erfahrungen zu sammeln, um mich weiterzuentwickeln», erzählt sie. Als sich Herrmann 2006 – nach ihrem Studium der Geologie und Paläontologie – auf nach Zürich machte, lebte sie zum ersten Mal ausserhalb ihrer Heimat Deutschland. Die Forschungsgruppe von Hans Thierstein am Departement für Erdwissenschaften regte sie zusätzlich an, über den Tellerrand hinauszublicken. «Unsere Gruppe war sehr divers. Wir kamen aus unterschiedlichen Kulturen, hatten verschiedene Vorstellungen und Hobbys. Das hat mich wahnsinnig neugierig auf mehr gemacht», sagt Herrmann. Die Paläontologin nutzte die unzähligen Möglichkeiten an der ETH, berauschte sich am internationalen Vibe und liess sich von der «Crème de la Crème der Wissenschaft» inspirieren. «Das war einfach wow», fasst sie ihre Zeit an der ETH zusammen.
«Ich wollte meine eigenen Grenzen testen und zugleich die Wissenschaft vorantreiben.»Sandra Herrmann
Vom Tumult zum Teamwork
Noch heute profitiert sie vom Wissen, das sie an der ETH erworben hat. In ihrem Job beim International Ocean Discovery Program (IODP) – einem Forschungsprogramm, das Bohrproben aus dem Meeresgrund entnimmt und analysiert – verbringt sie bis zu sechs Monate pro Jahr mit unterschiedlichsten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf hoher See. «Auf diesen Missionen benötigt man genau diese Offenheit und den gegenseitigen Respekt, um gemeinsam etwas aufzubauen», erklärt Herrmann, die auf dem Forschungsschiff eines der Labore leitet und die Forschenden in die Instrumente einführt. Dass sie mit den beeindruckenden Proben arbeiten darf, versetzt sie immer wieder in Erstaunen: «Einen Bohrkern in den Händen zu halten, in dem man sieht, wann die Dinosaurier ausstarben, ist einfach unglaublich», schwärmt sie.
Sechzig Tage dauert eine Expedition in der Regel. Hinzu kommen mehrere Tage der Vor- und Nachbereitung im Hafen. Während der Forschungsreise sieht die etwa 120 Personen starke Besatzung nur selten Land und ist absorbiert vom 24-Stunden-Betrieb, der auf dem Schiff herrscht. «Am Anfang weiss keiner so richtig, wo er hin soll – alles ist etwas ziellos. Doch bereits ab der zweiten Woche weiss jeder, wo es langgeht. Es läuft wie ein Uhrwerk, und nach zwei Monaten sind wir alle wie Familie», schildert Herrmann. Im engen Aufeinander und dem strengen Tagesablauf zeichnen sich jedoch auch Tiefpunkte ab: «Woche sechs ist oft besonders anstrengend. Die Aufregung ist verflogen, die Leute sind müde, das Heimweh taucht auf», erzählt sie. Die familiäre Verbindung, die sich im Team bildet, tritt nun in den Vordergrund. Wenn es die Bohrtätigkeit erlaubt, trinkt man gemeinsam einen Kaffee und spricht über die zu Hause gebliebenen Liebsten.
Leben in Ausnahmesituationen
Genau solche Gruppenprozesse und wie man diese erfolgreich in einer Mission zusammenbringt, faszinieren Herrmann. Auf ihren Expeditionen hat sie gelernt, besonders feinfühlig auf die Stimmungsänderungen der Mitmenschen zu achten und zu reagieren. «Meine Erfahrung hat mir auch in der Nasa-Raumkapsel geholfen», sagt sie. «Als in der Gruppe Heimweh aufkam, habe ich in meine Trickkiste gegriffen und eine Dance-Party initiiert.»
Dank der Ähnlichkeiten zur Situation auf dem Forschungsschiff konnte Herrmann ihre erste Mission als Analog-Astronautin in der Raumkapsel des HERA-Programms sehr entspannt angehen. Doch auch die Unterschiede – zum Beispiel in Bezug zur Aussenwelt – fielen ihr auf. In einer ruhigen Minute auf dem Forschungsschiff lässt Herrmann gerne den Blick zum Himmel schweifen und geniesst die Weite bis zum Horizont. In der beengten Raumkapsel hingegen simulierten Monitore den Blick ins All. «Du siehst keinen Baum, kein Gras, kein Wasser, hörst keinen Vogel, keine Umweltgeräusche und riechst die Natur nicht mehr», erzählt Herrmann. «Ich fühlte mich tatsächlich wie im All.» Nach der 45-tägigen Mission freute sie sich am meisten auf genau diese Sinneswahrnehmungen. «Ich wollte einfach nur ins Gras liegen, den Himmel anschauen und die frische Erde riechen», berichtet sie.
Vom Alltag ins nächste Abenteuer
Erst wenn Herrmann von ihren Expeditionen heimkehrt, stellt sich so etwas wie Alltag in ihrem Leben ein. Bis September 2023 war sie Teil eines Teams, das am IODP-Sitz in College Station, Texas, eine Software für die wissenschaftliche Beschreibung und Auswertung von Bohrkernen entwickelte. «Das glich einem Nine-to-five-Job. Am Mittag drehte ich meine Joggingrunde. Nach der Arbeit trank ich einen Kaffee mit meinem Mann und dann holten wir das Flugzeug aus dem Hangar», schildert Herrmann. Kürzlich hat sie die Prüfung zur kommerziellen Pilotin bestanden und arbeitet nun daran, mehrmotorige Flugzeuge zur Liste der Flugscheine hinzuzufügen. Ob sie noch Linienpilotin werden oder doch lieber die akrobatische Fliegerei ausprobieren möchte, weiss sie noch nicht. «Ich plane diese Dinge nicht. Ich bin einfach offen für Neues und sage ja, zu dem, was mich am meisten fasziniert und vorantreibt», sagt sie. Das Wichtigste ist für sie jedoch, dass sich die Projekte mit ihrer Familie – ihrem amerikanischen Ehemann und ihren Eltern in Deutschland – vereinbaren lassen.
Herrmanns nächstes Abenteuer lockte sie nach San Diego: Im Oktober 2023 trat sie ihre neue Stelle in der Scripps Institution of Oceanography an. Dort ist sie wiederum auf Schiffen unterwegs und misst ozeanografische Parameter wie Temperatur und Salzgehalt des Meeres.
Zur Person
Sandra Herrmann studierte Geologie und Paläontologie an der TU Bergakademie Freiberg und promovierte an der ETH Zürich in den Naturwissenschaften. Anschliessend wanderte sie in die USA aus und arbeitete zwölf Jahre lang beim International Ocean Discovery Program (IODP) in unterschiedlichsten Positionen. Ab Oktober 2023 forscht sie an der Scripps Institution of Oceanography in San Diego.
«Globe» Mensch im Mittelpunkt
Dieser Text ist in der Ausgabe 23/04 des ETH-Magazins Globe erschienen.