«Die Zeit der Kooperation à la carte ist vorbei»

Oliver Thränert leitete knapp zwölf Jahre lang den Think Tank am Center for Security Studies der ETH Zürich. Anlässlich seiner Pensionierung Ende Januar sprachen wir mit ihm über die künftigen Herausforderungen der Schweizer Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Drei Personen in Militärkleidung stehen vor dem Bundeshaus mit einer Fahne der Schweiz.
Die Ehrengarde der Schweizer Armee vor dem Bundeshaus in Bern. (Bild: Keystone)

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren intensiv mit der Schweizer Sicherheitspolitik. Was sind die grössten Unterschiede zu anderen Ländern?
Oliver Thränert
: Der Schweizer Bundesrat ist ein Kollegialorgan. Es gibt keinen Regierungschef oder keine Regierungschefin. Das hat den Vorteil, dass einmal getroffene Entscheide breiter legitimiert und auch nachhaltiger sind, da sie nicht durch einen etwaigen Regierungswechsel wieder abrupt verändert werden können. In anderen westlichen Demokratien wie Deutschland besteht indes eher die Notwendigkeit, dass sich die Regierung unter der Führung des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin auf eine Position einigen muss. In der Schweiz sind die Anreize grösser, Konflikte zwischen den Bundesräten und ihren Departementen nicht auszutragen und Entscheidungen aufzuschieben.

Das Schweizer System neigt zur Trägheit?
Ja. Diese Tendenz wird dadurch verstärkt, dass die Schweiz als neutrales Land nicht in der EU und NATO mitentscheidet. Sie muss in diesen Organisationen keine eigenen Positionen vertreten. Wenn sich der Bundesrat in einer sicherheitspolitischen Frage nicht einig ist, werden Entscheide eher vermieden.

Porträtfoto von Oliver Thränert
Oliver Thränert leitete knapp zwölf Jahre lang den Think Tank am Center for Security Studies der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich)

Können Sie uns dafür ein Beispiel nennen?
Nehmen wir den Atomwaffenverbotsvertrag, der Kernwaffen weltweit verbieten soll. Alle NATO-Staaten und andere westliche Länder, sogar Japan – das als einziges Land einen atomaren Angriff erleiden musste – haben beschlossen, dem Vertrag fernzubleiben, weil seine Einhaltung nicht kontrolliert werden kann und weil sie nukleare Abschreckung als wesentlichen Bestandteil ihrer Sicherheit ansehen. Nun beruht auch die Sicherheit der Schweiz zu einem gewissen Grad auf der nuklearen Abschreckung der NATO, was für die Schweiz ein Grund wäre, den Vertrag ebenfalls nicht zu unterzeichnen.

Ich höre schon Ihr aber.
Mit Verweis auf die lange humanitäre Tradition der Schweiz – immerhin hat das Internationale Rote Kreuz seinen Sitz in Genf – wird oft argumentiert, die Schweiz müsse den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen. Es besteht also ein Zielkonflikt zwischen der Sicherheit der Schweizer und ihrem humanitären Engagement. Dieser Konflikt ist seit Jahren ungelöst.

Die Schweiz ist seit Juni 2022 ein nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Hier sind doch immer wieder rasche Entscheide gefragt.
Ja, die Schweiz muss sich immer wieder kurzfristig positionieren. Das erfordert eine flexible Zusammenarbeit zwischen dem Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA und anderen Departementen. Insofern ist die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat ein gutes Trainingslager für die Schweizer Verwaltung. Ich bin angenehm überrascht, wie gut das bisher funktioniert.

«Jedes europäische Land – auch die Schweiz – muss sich fragen, welchen Beitrag es zur Stärkung der europäischen Sicherheit leisten will. Für die Schweiz ist das eine ungewohnte Frage.»
Oliver Thränert

Kommen wir zur aktuellen Sicherheitslage: Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon fast zwei Jahre und es ist kein Frieden in Sicht. Was bedeutet dies für die Schweizer Sicherheitspolitik?
Die europäische Sicherheit muss in Zukunft gegen und nicht mit Russland organisiert werden. Und jedes europäische Land – auch die Schweiz – muss sich fragen, welchen Beitrag es zu deren Stärkung leisten will. Für die Schweiz ist das eine ungewohnte Frage.

Warum?
Nehmen Sie die NATO: Bundesrätin Amherd, die Chefin des VBS, will enger mit dem Verteidigungsbündnis zusammenarbeiten. Aber die NATO wird in Zukunft viel genauer hinschauen, welche Staaten ihr wirklich helfen, die internationale Sicherheit zu gewährleisten. Partner, die nur dort mitmachen wollen, wo es ihnen nützt, werden weniger gefragt sein. Die Zeiten der Zusammenarbeit à la carte sind vorbei. Zudem wird die NATO genau beobachten, wie sich die Schweiz beim Atomwaffenverbotsvertrag positioniert. Tritt sie dem Vertrag bei, wird eine engere Zusammenarbeit schwierig.

Was hätte die Schweiz von einer engeren Zusammenarbeit mit der Nato?
Der Bundesrat hat sich für den Kauf des amerikanischen Kampfflugzeugs F 35 entschieden. Um die Fähigkeiten dieses Flugzeugs voll auszuschöpfen, ist die Schweizer Luftwaffe auf eine enge Zusammenarbeit mit ihren transatlantischen Partnern angewiesen. Und diese Partner sind fast ausnahmslos auch Mitglieder der NATO. Dabei geht es vor allem um die Teilnahme an Übungen und den Austausch von Daten. Ähnliches gilt auch für die bodengestützte Flugabwehr.

Das müssen Sie erklären.
Eine rein nationale Raketenabwehr macht einfach keinen Sinn. Die Schweiz setzt künftig auf das US-amerikanische Patriot-System. Ohne Sensoren in Partnerländern, die den Abschuss eines Marschflugkörpers frühzeitig erkennen, würden diese Abwehrraketen gar nicht funktionieren. Um beispielsweise eine aus dem Mittelmeerraum abgefeuerte Rakete mit Kurs auf die Schweiz abfangen zu können, bräuchte es eine gut eingespielte Zusammenarbeit mit dem NATO-Mitglied Italien. 

Zur Person

Oliver Thränert leitete knapp zwölf Jahre lang den Think Tank am Center for Security Studies der ETH Zürich. Er gilt als einer der führenden Experten für internationale Rüstungskontrolle und nukleare Abschreckung im deutschsprachigen Raum. Ende Januar wird er pensioniert.

Ist die Schweizer Armee überhaupt bereit für eine engere Zusammenarbeit mit der NATO?
Einzelne Teile – wie die Luftwaffe und die Spezialkräfte – sind es sicher. Bei den Bodentruppen sehe ich aufgrund des Milizsystems grössere Herausforderungen. Es ist schwierig, Milizangehörige für längere Zeit zu Übungen ins Ausland zu schicken. Wenn gewisse Teile der Armee stärker international ausgerichtet sind als andere, besteht zudem die Gefahr, dass ein kultureller Graben innerhalb der Armee entsteht.

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine geriet die Schweizer Regierung unter Druck. Vor allem die ausbleibenden Waffenlieferungen in die Ukraine stiessen bei vielen europäischen Partnern auf Unverständnis.
Die Schweiz ist völkerrechtlich an das Haager Neutralitätsabkommen von 1907 gebunden, das nicht zwischen Verteidigern und Angreifern unterscheidet. Ein neutraler Staat darf dementsprechend kriegführende Parteien nicht unterschiedlich unterstützen, unabhängig davon, wer der Aggressor ist. In vielen Hauptstädten der Welt hat man diese Position nicht verstanden.

«Die NATO wird genau beobachten, wie sich die Schweiz beim Atomwaffenverbotsvertrag positioniert. Tritt sie dem Vertrag bei, wird eine engere Zusammenarbeit schwierig.»
Oliver Thränert

Warum nicht?
Weil die UN-Charta, die 1945 beschlossen wurde, für die meisten Staaten massgeblich ist. Darin ist das Prinzip der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung verankert. Staaten, die Opfer einer militärischen Aggression werden, dürfen also mit militärischen Mitteln bei ihrer Verteidigung unterstützt werden. Im Vergleich dazu ist die Haager Landkriegsordnung weniger bekannt.

Hätte die Schweiz ihr Neutralitätsverständnis besser kommunizieren müssen?
Ja, das ist eines der grössten Defizite der schweizerischen Aussen- und Sicherheitspolitik. Die Schweiz müsste mehr tun, um ihre Positionen zu vermitteln.

Sie haben 38 Jahre Erfahrung in der Politikberatung. Was sollten junge Forschende beachten, wenn sie politische Entscheidungsträger beraten?
Nur wer die Bedürfnisse, Probleme und Interessen politischer Entscheidungsträger versteht, kann sich wirksam einbringen. Man sollte möglichst viel mit denen reden, die man beraten will, und dies so klar und verständlich wie möglich tun. Zudem sollte man nicht mit der Haltung kommen, dass die Politik das umsetzen müsse, was die Forschung sagt.

Also kein “follow the science”?
Politik braucht wissenschaftliche Erkenntnisse, aber sie ist eben nicht die Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln. Sie folgt anderen Mechanismen wie der demokratischen Mehrheitsfindung, der Legitimation von Entscheidungsprozessen und der internationalen Zusammenarbeit.

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