Klimaschutz, Biodiversität und Energieversorgung gemeinsam denken
Erneuerbare Energien sind nicht der Haupttreiber des Artensterbens. Es ist eher umgekehrt: Die Erneuerbaren können den Klimawandel begrenzen, um die Biodiversität zu erhalten. Cyril Brunner ordnet die Abwägungen aus wissenschaftlicher Sicht ein.
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Am 9. Juni stimmt die Schweiz über das Stromgesetz ab. Eigentlich handelt es sich um ein ganzes Paket an Gesetzen – und um einen grossen Kompromiss. Es will eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien auch im Winter erreichen und ermöglicht es der Schweiz, mehr einheimischen Strom aus Sonne, Wasser und Wind zu gewinnen.
Die Vorlage wirft Fragen auf: Warum braucht es die Energiewende gerade jetzt und in dieser Form? Was sind die Folgen für Landschaft und Artenvielfalt? Und kann man gleichzeitig das Klima schützen, die Biodiversität erhalten und die Energieversorgung sichern?
Es sind genau solche Schnittstellen und Zielkonflikte, mit denen sich die Schweiz in den kommenden Jahren auf dem Weg in die Klimaneutralität konfrontiert sieht. An diesen Schnittstellen forscht SPEED2ZERO, eine Gemeinsame Initiative der Institutionen des ETH-Bereichs. Zusammen mit Forschenden des Konsortiums aus den Fachbereichen Biodiversität, Landschaft, Energie und Klima haben wir einige dieser Abwägungen aus wissenschaftlicher Sicht bewertet und in einem Whitepaper zusammengefasst.1
Ich finde die Diskussionen rund um die Abstimmung sehr wichtig. Denn weltweit und gerade auch in der Schweiz geht die Biodiversität besorgniserregend zurück. Die Ursachen dafür sind hauptsächlich die Urbanisierung und die Landwirtschaft, aber nur in geringem Ausmass die Energieinfrastruktur.
Dennoch gibt es ihn, diesen Zielkonflikt zwischen neuen Anlagen und dem Schutz der Biodiversität: Wasserkraftwerke unterbrechen die Wanderwege von Fischen und stören das ökologische Gleichgewicht der Flüsse; Solaranlagen werfen Schatten und können Vegetation und Tiere beeinträchtigen; Vögel und Fledermäuse kollidieren mit Windturbinen. Diese Zahlen sind jedoch sehr klein: In der Schweiz sterben pro Windturbine gleichviele Vögel wie zwei Hauskatzen jedes Jahr fressen.
Allerdings trägt der Klimawandel selbst zum Verlust der biologischen Vielfalt bei. Gelingt es uns nicht, ihn einzudämmen, wird das immer wärmere Klima voraussichtlich zu einem der Haupttreiber des Artensterbens. Hinzu kommt, dass der Klimawandel bereits Landschaften im grossen Stil verändert, die global abschmelzenden Gletscher zeugen davon, aber persönlich bereiten mir auftauender Permafrost, in Folge bröckelnde Berge und instabile Hänge oder verdorrende Waldstriche wegen langen Trockenperioden mehr Sorgen. Ein zentrales Argument für die gesetzten Klimaziele ist denn auch, die verheerenden Folgen für Biodiversität und Landschaften zu mindern.
Die Schweiz will den Ausstieg aus fossilen Brenn- und Treibstoffen primär durch Wärmepumpen und Elektromobilität erreichen und ihren wachsenden Bedarf an erneuerbarem Strom vor allem durch Fotovoltaik und Wasserkraft decken. 2023 wuchs die erneuerbare Stromproduktion angesichts Energiekrise und geopolitischer Spannungen um so viel an, dass wir in weiteren 25 Jahren die zusätzlich benötigte Strommenge für eine klimaneutrale Schweiz produzieren könnten – doch es ist unwahrscheinlich, dass sich das Tempo von 2023 ohne Massnahmen halten lässt. Das Stromgesetz setzt Anreize und baut altbekannte Hürden ab.
Ohne Kompromisse geht es nicht
Es ist klar: Jede neue Infrastruktur wirkt sich auf Biodiversität und Landschaft aus. Eingriffe können aber auf ein Minimum reduziert werden – dabei helfen vier Grundsätze, auf die wir in unserem Whitepaper eingehen. Die Bewertung des Standorts ist entscheidend.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Installationen auf bestehender Infrastruktur die Natur am wenigsten beeinträchtigen, gefolgt von menschlichen Einflussgebieten wie Bergbahnen, Äcker oder Weiden.
Bisher mussten Kantone geeignete Gebiete für Wasser- oder Windkraftanlagen festlegen, im neuen Gesetz müssten sie das auch für grosse Solaranlagen tun. Landschafts- und Biotopschutz, Walderhaltung sowie Mitsprache- und Beschwerdemöglichkeiten der Bevölkerung bleiben intakt.
Von allen Erneuerbaren haben Wasserkraftwerke den grössten negativen Einfluss auf die Biodiversität. Speicherseen einen lokalen. Bei den 15 geplanten Wasserkraftprojekten handelt es sich in 13 Fällen um bestehende Speicherseen, die erweitert oder in einem Fall neu energetisch erschlossen würden. Der negative Einfluss ist bei diesen Erweiterungen viel kleiner als bei Anlagen an neuen Standorten. Zwei Projekte sind neue Speicherseen an Orten, wo zuvor eine Gletscherzunge war.
Veränderungen sind unausweichlich
Aus meiner Sicht wäre es jedoch falsch, neue Infrastruktur abzulehnen, nur weil sie nicht frei von Folgen ist. Wir sollten uns bewusst sein, dass es ohnehin zu einem Wandel der Landschaft kommt – nichts zu tun bedeutet nicht, dass sich die Natur nicht verändert. Fortschritte beim Klimaschutz sind dringend notwendig.
In der aktuellen Debatte über die Folgen der Erneuerbaren kann man aus wissenschaftlicher Sicht betonen, dass solche Anlagen nicht die Hauptursache für die schwindende Artenvielfalt sind. Die Biodiversitätskrise ist jedoch ebenso real und lebensbedrohend wie der Klimawandel. Beides können wir nur zusammen lösen – und ein Schlüssel dazu sind erneuerbare Energien.
Als Gesellschaft kommen wir nicht darum herum, uns dieselben unbequemen Fragen auch in weiteren Lebensbereichen zu stellen. So sollten wir die wesentlichen Ursachen des Biodiversitätsverlustes2 genauso offen diskutieren und pragmatische Kompromisse finden.
1 Aktuelle Herausforderungen für die Schweiz – Schnittstellen in den Bereichen Klimaschutz, Erhaltung der Biodiversität, Energiesicherheit und Landschaftsschutz. Whitepaper (2024) SPEED2ZERO
2 externe Seite Trendwende Klima und Biodiversität (2022) SCNAT