Eine Gruppe schwimmt mit Neoprenanzügen und gelben Helmen im Fluss

In der Turnhalle von Mutter Natur

Wer an der ETH Zürich das Lehrdiplom Sport macht, muss sich durch Kälte und Flusswellen kämpfen. Das ist einmalig in der Schweiz. Ein Besuch da, wo sich Outdoor-Pädagogik und Lagerromantik treffen.

Alle paar Minuten durchzittert sie ein Frösteln. Das Haar tropft noch – oder schon wieder? Wer kann das bei dem Regen schon sagen, den der graue Himmel seit heute Morgen auf das Waldstück an der Flussschleife beim aargauischen Städtchen Bremgarten leert. Die eine Campingtasse heisse Buchstabensuppe, die sich Lisa Stoffel mit zwei Studienkolleginnen geteilt hat, hat auch nicht viel gebracht. Erst vor eineinviertel Stunden hat sich die 23-Jährige mühsam aus dem Neoprenanzug geschält. Rund 180 Meter waren sie und ihre Studienkolleg:innen nacheinander die dunkelgrüne Reuss hinab­geschwommen. An Steinen und einem angeschwemmten Baumstamm vorbei. Eine Schwelle hinunter, dann durchs schäumende Weisswasser, rauf auf eine Insel.

«Im Wasser hat einen das Adrenalin noch von der Kälte abgelenkt», sagt sie jetzt lachend. Auf einer Website, die die Reuss-Verhältnisse anzeigt, heisst es: «Nur für die ganz Harten». Fünfzehn Grad Celsius. Immerhin zwei Grad wärmer als draussen an der Luft. «Perfekt», findet hingegen Simon Starkl das Wasser. Starkl, sportlich, mit einem «Komm-schon-das-kriegst-du-hin-Lächeln», unterrichtet normalerweise an einer interkantonalen Polizeischule. Polizisten von Uri bis Basel, die selbst Taucher ausbilden wollen, müssen mit Starkl ins Wasser. An diesem Septembersamstag müssen das 22 ETH-Studierende. Sie alle absolvieren bei jenem Herrn ihr Lehrdiplom Sport, bei dem Starkl selbst vor dreizehn Jahren den Abschluss gemacht hat und der mit der Anwesenheitsliste ebenfalls im Halbkreis steht: Hanspeter Gubelmann.

«Globe» Eine Reise ins All

Globe 24/04 Titelblatt

Dieser Text ist in der Ausgabe 24/04 des ETH-​​​​Magazins Globe erschienen.

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Keine Angst vor tiefem Wasser

«Seid nie allein unterwegs – ausser auf dem WC», scherzt Gubelmann väterlich. Und: «Schaut, dass ihr genug warm habt!» Gubelmann weiss, wovon er spricht. Er ist schon zigmal mehrere Stunden mit Studierendengruppen die Reuss auf Flössen aus je etwa 300 PET-Flaschen runtergeschippert. Einmal musste eines geborgen werden, Schürfungen gab es auch immer wieder.

Jeder, der das Lehrdiplom Sport an der ETH Zürich macht, muss «Erziehungswissenschaften 2 Sport» belegen: ein Wochenende an und in der Reuss. 400 Studierende haben bisher dieses Programm absolviert. Sogar ein Student, der nach einem Turnunfall im Rollstuhl sass, war mit dabei. Oder auch schon Studierende mit Angst vor tiefem Wasser. «Sorry, als Lehrperson musst du damit umgehen lernen», sagt Gubelmann. Klingt hart. Aber dafür ist das Lehrdiplom Sport bekannt. Es wird neben sechs weiteren Lehrdiplomen an der ETH Zürich als Zusatzausbildung angeboten. Damit kann man auf gymnasialer Stufe unterrichten.

Der Weg dahin hat es aber in sich: etwa 1800 Lehrstunden in sportdidaktischer Ausbildung und Auflagen in der sportpraktischen und -wissenschaftlichen Ausbildung – von Volleyball bis Erste-Hilfe-Kurs. Es gibt Kurse in Molekular- und Zellbiologie oder auch digitaler Fussballanalyse. Immerhin können sich die Studierenden einiges von ihrem Studium Gesundheitswissenschaften anrechnen lassen. Theoretisch können auch Studierende anderer Fächer das Lehrdiplom Sport absolvieren. Dann wäre das aber quasi ein Doppelstudium.

Kein Wunder also, dass Maurus Pfalzgraf hier der Einzige ist, der nicht Gesundheits-, sondern Umweltnaturwissenschaften studiert. Pfalzgraf hatte zwei Semester mit den anderen studiert, bevor er wechselte. Er kann sich daher noch ein paar Fächer anrechnen lassen. «Aber im Vergleich zu den anderen muss ich noch Extrapunkte machen», erklärt der 24-Jährige, der an diesem Morgen noch etwas verschlafen ist.

Er hat Glück, könnte man sagen. Denn während Lisa Stoffel und ihre Teilgruppe bereits knöcheltief im Wasser stehen und von Instruktor Simon Starkl erfahren, dass sie sich zuerst wie ein Pinguin ins Wasser fallen und dann wie ein Wal – «Die Beine nur als Ruder nutzen!» – treiben lassen sollen, kann Pfalzgraf gemütlich sein Zelt im Lager aufbauen. Ganz Pfadfinder hat er bereits eine Hängematte aus einem Seil geknüpft. Später werden nasse Handtücher daran trocknen. Die Hängematte wiegt unter einem der Dutzend moosbewachsenen Brückenelemente aus Beton hin und her, die hier auf dem alten Waffenplatz verwaisen.

Zwei Meter daneben dampft aus einem Kessel eine Bouillon überm Feuer. Ein paar Ascheflocken schwimmen in der Suppe. Zwei Studentinnen diskutieren, ob da vielleicht ein Schwarzrückenkäfer über ihre Handflächen spaziert. Das Szenario hat etwas von einem dieser postapokalyptischen Filme, in denen die Menschen von Grund auf lernen müssen, wie sie Feuerstellen und eine Gemeinschaft bauen, die funktioniert. Gruppendynamiken mitzuerleben, zu lesen und zu leiten, ist Teil des Kurskonzepts hier in der Natur.

Ein zweites Standbein

Pfalzgraf hatte zwar während des Gymnasiums auch Lager besucht. Aber nur in Häusern. Ob er selbst mal eine Klasse als Sportlehrer übernehmen will? Vielleicht eher doch Trainer werden, sagt der Kanuspezialist, der findet, das sei «der wohl beste Job der Welt».

Mit dieser Meinung ist der Student nicht allein. Wenn man sich unter den 800-Meter-Läuferinnen, Hockeyspielern und Kung-Fu-Kämpferinnen in der Gruppe umhört, wollen nicht alle Lehrperson werden. Mit dem Diplom könne sie sich manches offenhalten, sagt etwa Studentin Maxine Monnerat. «Mich interessiert Leistungsdiagnostik.» Die einstige Mittelfeldspielerin – das verflixte Kreuzband – hat vorhin noch mit einem verbogenen Hering das Zelt befestigt. Als Mitglied der Floss-Truppe muss sie später das Material für den Bau am Folgetag bereit machen, während andere Sitzgelegenheiten oder einen Pizzaofen basteln müssen. Nach dem Wochenende wird sie sagen, dass «das Adrenalin durch die Decke ging», bis aus der Hoffnung, dass das Floss hält, nach der ersten Welle Gewissheit wurde.

Die kletterbegeisterte Lisa Stoffel dagegen wird als Mitglied der Kochtruppe ein scharfes Curry zubereiten. Sie habe mit dem Diplom ein «zweites Standbein», wie sie sagt. Sie bekommt gerade mit ihrer Gruppe von Instruktor Starkl anhand eines Grasbüschels gezeigt, welche Strömungsarten im Fluss walten. Erst im Laufe des Lehrdiploms hat sie gemerkt, dass ihr einstiger Kindheitswunsch Sportlehrerin doch ganz gut zu ihr passt.

Roger Scharpf findet es okay, dass sich nicht alle Studierenden auf den Lehrberuf fokussieren. «Manche gehen in die Leistungsdiagnostik, andere in die Bewegungstherapie oder in die Forschung. Andere werden Instruktoren wie Starkl oder Lehrer wie ich.» Scharpfs braun gebranntes Gesicht verrät, dass er gerade erst mit einer Klasse von Genf bis an die Côte d’Azur geradelt ist. Scharpf – Gymnasiallehrer im Aargau und Lehrbeauftragter an der ETH – behält hier im Waldstück die Übersicht, während sein Kollege Gubelmann bei der anderen Teilgruppe als Plan B mit einem Seil in der Hand in der Reuss steht.

Hanspeter Gubelmann steht vor den Studierenden und erklärt etwas. Alle tragen einen Neoprenanzug und Schwimmweste
Hanspeter Gubelmann verantwortet seit fünfzehn Jahren den erziehungswissenschaflichen Teil im Sportlehrdiplom. (Bild: Michel Büchel / ETH Zürich)

Realitätsnahe Ausbildung

Die beiden verantworten seit fünfzehn Jahren, dass auch in der Natur unterrichtet wird. Damals hatte man gemerkt, dass Mathe- und Sportunterricht ganz anders funktionieren, sagen Gubelmann und Scharpf. Sie wurden gefragt: «Könnt ihr den erziehungswissenschaftlichen Teil im Sportlehrdiplom neu konzipieren?»

Scharpf, der zuvor in Schottland die Outdoor-Education-Philosophie kennengelernt hatte, und der gebirgserfahrene Gubelmann legten los. Ihr Konzept brachten sie mühelos im Lehrplan durch. «Just do it», sagt Gubelmann und schmunzelt.

Aber warum überhaupt ein Kurs draussen? Es mache etwas mit einem, wenn man sich durchbeissen und tageweise Regen durchstehen müsse, findet Scharpf. Gubelmann ergänzt, dass es an Schulen immer mehr Projektwochen gebe, weswegen diese Ausbildung realitätsnah sei. «Ausserdem sollten Jugendliche mehr raus in die Natur, weil sie das praktisch nicht mehr machen.»

Zwei Studierende bauen ein Floss
Maxine Monnerat (links) beim Bau des Flosses. Wird es die Fahrt auf dem Fluss überstehen? (Bild: Roger Scharpf)

Raus an die frische Luft, fair enough. Aber warum gerade ein Fluss? Lehrpersonen müssten hier Kompetenzen haben, weil die meisten Leute statistisch gesehen an Flüssen verunfallten, erklärt Gubelmann. Und warum die Reuss – ein Fluss, der nicht ungefährlich ist? «Es ist nicht die Idee, die Leute in Risikozonen zu bringen. Sondern sie zu schulen, Risiken einzuschätzen», sagt Gubelmann, ganz Sportpsychologe. Deshalb ist auch Experte ­Simon Starkl dabei.

«Wir wurden gut von ihm angeleitet», resümiert Lisa Stoffel. «Wenn ich dann als Lehrerin für Schüler:innen im Einsatz bin, ist es gut zu sagen: Ich weiss, wovon ich rede, ich habe das schon gemacht.» Sie könne sich vorstellen, einmal ein Flossbau-Projekt mit einer Klasse umzusetzen, wird sie später sagen. Maxine Monnerat fasst das Wochenende in einem Satz zusammen: «Raus aus der Komfortzone.» Sollte sie doch Lehrerin werden und nicht in die Leistungsdiagnostik gehen, kann sie sich vorstellen, das Outdoor-Konzept zu übernehmen. Als sie selbst noch Schülerin war, hatte Monnerats Schule bereits Outdoor-Wahlpflichtkurse angeboten. Einer davon war eine Velotour an die Côte d’Azur – es ist dieselbe Strecke, die Roger Scharpf mit seinen Schülerinnen und Schülern seit Jahren abfährt.

Er findet es «schon toll», dass andere sich seiner Ideen bedienen würden, sagt Scharpf mit einem breiten Lächeln. «Es gibt kein Copyright auf pädagogische Rezepte. Was wir haben, geben wir gerne weiter.» Die Outdoor-Sportpädagogik der ETH, sie macht Schule.

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