Fokus Ernährung: Was in die Regale kommt

Das Sortiment in unseren Läden ändert sich laufend. Wer aber entscheidet, was in den Läden angeboten wird? Und welche Prozesse verbergen sich hinter den Produkten, die wir einkaufen?

Sibyl Anwander, Leiterin Nachhaltigkeit/Wirtschaftspolitik bei Coop, Michael Siegrist, Professor für Consumer Behavior, und Achim Walter, Professor für Kulturpflanzenwissenschaften an der ETH Zürich, geben Antworten.

Das Gespräch führten Roland Baumann und Felix Würsten

Wenn Sie Lebensmittel einkaufen: Worauf achten Sie?

Sibyl Anwander: Aspekte wie Fairtrade, Bio und Abwechslung sind für mich wichtig. Convenience-Produkte gibt es bei uns hingegen nicht. Beim Einkaufen berücksichtige ich die Vorlieben der Kinder – wobei wir das Problem haben, dass sie kein Gemüse essen. Das schränkt schon etwas ein.

Achim Walter: Bei uns kauft vor allem meine Frau ein. Sie ist Vegetarierin, kocht abwechslungsreich mit viel Gemüse. Beim Einkauf achtet sie sehr auf Bio und regionale Produkte. Ich persönlich kaufe eher das, was den Freuden des Lebens dient – Wein, Bier und ab und zu Süssigkeiten für die Kinder.

Michael Siegrist: Bei uns sind beide berufstätig, und ich kaufe etwa 80 Prozent der Lebensmittel ein. Ich bin hedonistisch ausgerichtet: Im Zentrum steht für mich der Geschmack der Lebensmittel. Labels sind für mich zweitrangig. Wir haben zwei Söhne; der eine isst alles, der andere ist etwas heikler.

Kinder scheinen beim Einkaufen eine wichtige Rolle zu spielen. Beeinflusst dies das Sortiment in den Läden?

Anwander: Wir überlegen uns bei Coop genau, welche Produkte aus welchen Preiskategorien wir aufnehmen, damit wir ein vielfältiges Sortiment anbieten können – ein Sortiment, das sich von der Konkurrenz unterscheidet und die Erwartungen der Konsumenten erfüllt. Wir haben vor 20 Jahren Bioprodukte oder vor ein paar Jahren alte Sorten unter Pro Specie Rara eingeführt – da war keine direkte Nachfrage vorhanden, weil es ja kein Angebot gab. Aber wir haben damit gesellschaftliche Entwicklungen vorweggenommen.

Umgekehrt nehmen wir aus Nachhaltigkeitsüberlegungen auch Produkte gezielt aus dem Sortiment. Beim Fisch zum Beispiel wird das Sortiment stetig nach den Richtlinien der WWF Seafoodgroup überarbeitet. Dies führt zu Auslistungen oder einer Sortimentsänderung bezüglich Fanggebiet und Fangmethoden. Wo immer möglich, setzen wir auf MSC-zertifizierte Fischereien oder Bio Fischzuchten. Bei der Sortimentsgestaltung hat der Detailhandel eine Gatekeeper-Rolle im positiven wie im negativen Sinn.

Und welche Rolle spielen die Konsumentinnen und Konsumenten?

Anwander: Letztlich entscheiden sie, ob sich ein Produkt durchsetzt. Wobei der Detailhandel schon Möglichkeiten hat, den Kaufentscheid zu beeinflussen – durch die Platzierung des Produkts, durch Promotionen oder durch eine Begleitkommunikation. Trotzdem: Rund drei Viertel der Neuheiten setzen sich längerfristig bei den Kundinnen und Kunden nicht durch. So gibt es, neben den festen Grössen, einen ständigen Wandel im Sortiment.

Trägt auch die Landwirtschaft zum Wandeldes Sortiments bei?

Walter: Ja, auch aus der Landwirtschaft kommen Neuerungen. Nehmen wir das Beispiel der Aprikose: Die wurde in den letzten 15 Jahren stark weiterentwickelt. In der Schweiz kann man heute von Juni bis September Walliser Aprikosen einkaufen. Das war früher undenkbar, da gab es im Juli/August ein Zeitfenster von etwa zwei Wochen, in denen die Aprikosen reif waren.

Nach welchen Kriterien fällen die Konsumenten denn ihren Kaufentscheid?

Siegrist: Der Preis spielt eine wichtige Rolle, und der Geschmack. Produkte können noch so gesund sein, noch so nachhaltig produziert sein – wenn sie keinen Geschmack haben, werden sie nicht gekauft. Dann gibt es noch Zusatznutzen wie Bio oder Convenience, die unterschiedliche Segmente ansprechen.

Sind die Konsumenten nicht überfordert mit dem riesigen Angebot?

Siegrist: In der Psychologie gibt es das Paradox der Auswahl: Wenn die Auswahl zu gross ist, sind die Konsumenten unglücklich, weil sie immer denken, sie hätten nicht die optimale Entscheidung getroffen. Die Praxis zeigt aber, dass sie dann eben doch dort einkaufen, wo sie eine grosse Auswahl finden. Sie können mit dem grossen Angebot also durchaus umgehen, indem sie sich an vertraute Marken und Produkte halten.

Ist dies der Grund, warum so viele neue Produkte floppen?

Anwander: Es gibt beides: Kunden, die enttäuscht sind, wenn das gewohnte Produkt nicht mehr im Sortiment ist, und jene, die gerne Neues ausprobieren. Über die Rezepte in unserer Zeitung können wir den Kaufentscheid beeinflussen. Dies können wir auch nutzen, um beispielsweise zu zeigen, dass ein Tier nicht nur aus Filets besteht. Die Schweizerinnen und Schweizer sprechen auch auf Aktionen sehr gut an. Wenn ein Produkt günstiger ist oder zusätzliche Punkte erhält, wird es vermehrt gekauft.

Welches sind denn die wichtigsten Kulturpflanzen, aus denen wir unsere Lebensmittel herstellen?

Walter: In Bezug auf die Kalorien sind Weizen, Reis und Mais die wichtigsten Kulturpflanzen. Sie decken über 50 Prozent des globalen Kalorienbedarfs. Bezogen auf die abgewogene Masse haben Gemüse und Obst aufgrund des höheren Wassergehalts einen grösseren Anteil. Aber die drei Getreide werden immer wichtiger, weil ein immer grösserer Teil der Lebensmittel aus Komponenten dieser drei Kulturpflanzen hergestellt wird. Auch gibt es bei den konsumierten Getreidepflanzen eine Konzentrierung. So wird etwa Hafer, der vor 40 Jahren noch sehr wichtig war, in der Schweiz heute fast nicht mehr angebaut.

Wie gross ist das Potenzial, um diese Pflanzen weiterzuentwickeln?

Walter: Bei lokalen Produkten wie den erwähnten Aprikosen werden wir auch in Zukunft für den Konsumenten spürbare Züchtungserfolge sehen. Bei Weizen, Reis und Mais hat man hingegen die biologischen Grenzen nahezu erreicht. Da ist ein Mehrertrag kaum mehr denkbar.

Welche Kriterien spielen bei der Züchtung eine Rolle? Geht es nur um Ertrag oder auch um Geschmack?

Walter: Der Geschmack muss einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, damit ein Produkt überhaupt gekauft wird. Ich erinnere an die «Holland-Tomaten», die vor 30 Jahren in die Läden kamen. Diese habe ich persönlich nicht mehr gekauft, wie viele andere Konsumenten auch. Heute haben wir bei den Tomaten vom Geschmack und von der Qualität her wesentlich bessere Produkte.

Anwander: Einen grossen Einfluss haben auch die Produktion, der Erntezeitpunkt und die Lagerdauer. Je länger eine Frucht am Baum reift, umso besser kann sie ihr genetisches Potenzial ausschöpfen – mit der Konsequenz, dass solche Produkte nicht mehr so lange haltbar sind und auch einmal eine unschöne Stelle haben. Da kommen auch Kostenüberlegungen ins Spiel, weil das Risiko bei reifen Produkten grösser ist, dass man sie nicht verkaufen kann.

Haben die Konsumenten noch einen genügend guten Bezug zu den Produkten?

Siegrist: Es ist tatsächlich so, dass die Produktion von Lebensmitteln für immer mehr Konsumenten eine Blackbox ist. Wer war schon in einem Schlachthaus? Wer auf einem Bauernhof? Entsprechend nehmen gewisse naive Vorstellungen zu, wie Lebensmittel produziert werden sollten. Lebensmittel in den Mengen, wie sie benötigt werden, können nicht so produziert werden, wie das Werbefilme suggerieren. Solche Produkte wären unbezahlbar, zumindest für die meisten Konsumenten.

Ist demnach das verzerrte Bild der Produktionsbedingungen in der Werbung des Detailhandels nicht etwas problematisch?

Anwander: Wir sind in einem Spannungsfeld. Auf der einen Seite haben wir neue Technologien, um den Produktionsprozess rationeller zu gestalten. Auf der anderen Seite wird heute teilweise auch weniger Technologie eingesetzt, etwa bei den Zusatzstoffen zur Konservierung. Die Produkte werden schonender behandelt. Es stimmt aber: Die Zusammenhänge zwischen Rezepturen, Prozessen und Haltbarkeit sind heute nicht mehr bekannt. Die Frage ist auch, ob alle Leute jeden Prozess kennen wollen. Letztlich konsumieren wir ja nicht nur rational, sondern auch emotional. Nachhaltigkeitsthemen wie das Tierwohl, der biologische Anbau, Fairtrade oder Regionalität können über Bilder viel besser vermittelt werden als zum Beispiel über eine Ökobilanz auf der Verpackung.

Trotzdem sind es doch stark idealisierte Bilder.

Anwander: Ja, wir transportieren in der Werbung teilweise eine heile Welt, das ist so. Studien zeigen, dass vor allem Männer um die 40, die in Banken und Versicherungen arbeiten, diese heile Welt mit ihren Kindern erleben möchten. Ich glaube aber, dass wir wieder etwas offensiver über Agrarmärkte und die erwähnten Zusammenhänge sprechen müssen. Aber auch über die logistische Leistung, dass jeden Tag in jedem Laden das Sortiment in dieser Qualität und Frische vorhanden ist.

Herr Walter, wie nehmen Sie dieses Spannungsfeld wahr?

Walter: Den Konsumenten bewusst zu machen, wie Lebensmittel produziert werden, ist für mich ein grosses Anliegen. Heute können Kinder erklären, wie ein Smartphone funktioniert. Aber sie wissen nicht, wie die grundlegenden Nahrungsmittel hergestellt werden. Da sind wir – auch in unserer Funktion als Lehrende – aufgerufen, Wege aufzuzeigen, wie dieses Wissen vermittelt werden kann.

Ein breit diskutiertes Thema ist Food Waste. Ein Drittel aller Lebensmittel soll gemäss Untersuchungen nicht konsumiert, sondern weggeworfen werden. Weshalb ist das so?

Anwander: Das ganze Thema wird meiner Meinung nach zurzeit medial zu stark aufgeblasen. Das fängt damit an, dass nicht unterschieden wird zwischen den Food Losses, die bei der Produktion und beim Transport anfallen, und den Lebensmitteln, die von den Konsumenten tatsächlich weggeworfen werden. Bei den Food Losses geht es um die Rohprodukte, um die Frage, wie sich haltbare Produkte herstellen und damit Lager- und Transportverluste vermindern lassen. Das ist vor allem in Entwicklungsländern ein grosses Thema. In der gegenwärtigen Diskussion geht es aber um die Lebensmittel, die in den privaten Haushalten und in der Gastronomie weggeworfen werden. Lebensmittel haben nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher. Während sie vor 50 Jahren noch über einen Drittel der Haushaltsausgaben ausmachten, sind es heute kaum mehr 10 Prozent. Dies wirkt sich auf den Umgang aus.

Müssen wir mit solchen Verlusten also einfach leben?

Siegrist: Interessant an dieser Diskussion ist vor allem der moralische Unterton. Man könnte auch über Kleider sprechen, die wir kaufen und nie anziehen. Oder über Smartphones, die wir kaufen, obwohl das alte noch funktioniert. Dass sich die Diskussion auf Lebensmittel konzentriert, hängt wohl mit der alten Vorstellung zusammen, dass wir den Teller ausessen müssen, weil jemand anders Hunger leidet. Wir müssen aufpassen mit politischen Forderungen, die darauf abzielen, den Leuten ein «richtiges» Verhalten beizubringen. Das soll kein Plädoyer sein, Lebensmittel wegzuwerfen. Doch wir müssen es den Konsumenten überlassen, ob sie lieber frisches Brot essen oder zuerst das alte aufbrauchen.

Was macht der Detailhandel in diesem Bereich?

Anwander: Wir haben schon vor Jahren beschlossen, in unseren Läden möglichst keine Nahrungsmittel wegzuwerfen. Dazu dient eine ganze Kaskade von Verwertungsmassnahmen: Wir reduzieren den Preis vor Ablauf des Verkaufsdatums und arbeiten mit Hilfsorganisationen zusammen, die einwandfreie Lebensmittel an bedürftige Menschen abgeben. Manche Produkte gehen als Tierfutter zu den Landwirten, und der Rest wird zu Biogas verwertet.

Und wie sieht es auf der Produktionsseite aus?

Walter: Bei den Verlusten nach der Ernte muss man je nach Weltgegend unterscheiden. In sich entwickelnden Ländern fallen hauptsächlich Transportverluste ins Gewicht. Da gibt es keine Kühlketten, die Verkehrsinfrastruktur ist nicht gut ausgebaut usw. Durch einen Ausbau der Infrastruktur liesse sich viel erreichen. Bei uns kommen Verluste vor allem dadurch zustande, dass Produkte mit kleineren Mängeln oder Schönheitsfehlern nicht mehr abgesetzt werden können. Dadurch gibt es auch bei uns Verluste im Nacherntebereich. Wobei auch die Bauern die Produkte, die sie nicht verkaufen können, über andere Kanäle verwerten – und sei es nur auf dem Komposthaufen.

Anwander: Was ich viel bedenklicher finde ist, dass wir heute von einem Tier nur noch einen kleinen Teil verwenden. Früher wurde vom Kalbskopf bis zum «Sauschwänzli» alles gegessen oder zu Spezialitäten verarbeitet. Heute nutzen wir von einem Rind noch das Hinterviertel und das Filet. Hier erlauben wir uns einen Luxus, der kaum angesprochen wird. Aus ökologischer Sicht ist dies umso bedenklicher, weil schon bei der Umwandlung von pflanzlichen in tierische Proteine ein grosser Effizienzverlust entsteht.

Welchen Einfluss hat die Globalisierung auf den Fleischkonsum?

Siegrist: Der Fleischkonsum wird weltweit sicher zunehmen. In Ländern, die sich wirtschaftlich entwickeln, steigt der Konsum an, wenn auch noch auf tiefem Niveau. Aber angesichts der grossen Zahl von Menschen, die sich Fleisch nun leisten können, hat dies grosse Auswirkungen auf die Nachfrage. Es gibt auch keinen Grund zur Annahme, dass sich dies ändern wird. Menschen verzichten kaum je freiwillig auf Fleisch.

Ein anderes Thema, das kontrovers diskutiert wird, sind gentechnisch veränderte Produkte. Wird die Schweizer Bevölkerung diese künftig akzeptieren?

Siegrist: Der Grund, weshalb Konsumenten gentechnisch veränderte Produkte ablehnen, liegt meiner Meinung nach am fehlenden Nutzen. Die Produkte sind nicht billiger, und sie schmecken nicht besser. Gleichzeitig gibt es keine gentechnisch veränderten Produkte, weil sich niemand die Finger verbrennen will. Kein Produzent und kein Detailhändler will der Erste sein – aus Furcht vor NGO wie Greenpeace. Ich bin aber überzeugt, dass solche Produkte schnell akzeptiert würden, wenn sie in den Läden erhältlich wären – wie etwa in den USA.

Das überrascht angesichts der Ablehnung in Umfragen.

Siegrist: Wir müssen unterscheiden, ob die Leute als Bürger oder Konsumenten antworten. Schweizer sind in Abstimmungen immer für stärkere Tierschutzgesetze, sie sind für ein Gentech-Moratorium und für nicht zu grosse Produktionsbetriebe – also für eine moralisch richtige Produktion. Gleichzeitig kaufen die gleichen Leute Fleisch im Ausland ein, wo es viel billiger ist, aber unter ganz anderen Bedingungen produziert wird.

Worin liegt der Hauptvorteil der Gentechnologie?

Walter: Gentechnologisch veränderte Lebensmittel wer¬den heute weltweit auf der dreifachen Fläche angebaut wie Biolebensmittel. Und die Fläche wächst ständig weiter. In den USA und in Südamerika sind praktisch 100 Prozent der angebauten Soja- und Maissorten transgen verändert, in den USA auch Zuckerrüben. Diese Pflanzen haben den Vorteil, dass sie krankheitsresistenter sind und dadurch sicherer im Anbau. Die Bauern können wirtschaftlicher produzieren, dafür steigt die Abhängigkeit vom Saatgutproduzenten. Das ist einfach eine Realität. Ich glaube nicht, dass sich das viele Schweizerinnen und Schweizer vor Augen halten, wenn sie in den USA einen Hamburger essen.

Also könnte sich an der Einstellung doch etwas ändern?

Walter: Die Vorbehalte in der Bevölkerung sind gross, aus den Gründen, die Michael Siegrist angesprochen hat. Es wird sich wohl erst etwas ändern, wenn der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen um uns herum zu einer Normalität wird. Siegrist: Und wenn sich der Preis ändert, also wenn man einen Aufpreis für gentechfreie Produkte zahlen muss.

Anwander: In der Gesetzgebung ist allerdings klar festgehalten, dass jene, die die Technologie nutzen und den Vorteil haben, für eine saubere Trennung von gentechveränderten und gentechfreien Produkten verantwortlich sind. De facto ist es aber so, dass jene, die auf die Technologie verzichten, eine Zertifizierung durchführen müssen. Somit fallen bei ihnen die Kosten an, nicht bei denen, die den Nutzen haben. Solange die Frage von Nutzen und Risiken nicht ausdiskutiert ist, bleibt die Gentechnik in der Schweiz umstritten.

Und die Detailhändler wollen sich bei dieser Frage möglichst nicht exponieren?

Anwander: Da stecken auch klare Marketingüberlegungen dahinter. Wir haben als Ernährungssektor einen Wettbewerbsvorteil, weil die Schweiz als einziges Land in Europa vollständig auf Gentechnik in Anbau und Fütterung verzichtet. Und es entstehen keine Zusatzkosten, weil alle darauf verzichten. Ein Problem der Gentechnologie ist, dass immer noch gewisse Vorurteile in den Köpfen stecken – etwa ein hoher Herbizid- oder Pestizidverbrauch oder die Abhängigkeit von den Saatgutherstellern. Bis vor zehn Jahren hatten wir in der Schweiz einen intensiven Dialog. Der wurde leider abgebrochen.

Wie nehmen Sie, Herr Walter, die Gentechnikdiskussion wahr?

Walter: Die Gentechnik startete ursprünglich mit grossen Versprechungen. Heute sieht man das nüchterner. Gewisse gentechnische Veränderungen sind ein interessantes Werkzeug. Was in der Diskussion immer vergessen geht, ist der Zeithorizont. Die Domestikation unserer Nutzpflanzen hat hunderte, tausende Jahre gedauert. Vergleichbare Veränderungen können mit der Gentechnik nicht von heute auf morgen realisiert werden. Es braucht auch da langfristig angelegte Programme, bei denen man immer wieder kontrolliert, ob die Veränderungen auf dem Feld zum gewünschten Resultat geführt haben. Es liegt in der Natur der Sache, dass das viel Zeit braucht.

Anwander: Von dem her könnte der Klimawandel zur Akzeptanz der Gentechnik beitragen, weil die Landwirte schneller neue Züchtungen brauchen. Die klassische Züchtung braucht mindestens 20 Jahre – ob wir angesichts der raschen klimatischen Veränderungen diese Zeit noch haben werden, ist fraglich. Die Gentechnik könnte helfen, die Züchtungsverfahrungen zu beschleunigen.

Walter: Im Hinblick auf den Klimawandel ist vor allem auch die genetische Vielfalt wichtig. Bei allen grossen Kulturarten gibt es Sorten, die mit weniger Wasser, höheren oder tieferen Temperaturen zurechtkommen, als sie heute in einer bestimmten Region vorherrschen. Wir werden in der Schweiz in 20 Jahren ein anderes Klima haben als heute. Da brauchen wir Sorten, die mit etwas weniger Wasser auskommen, die eine bessere Ertragssicherheit bieten oder vielleicht in höheren Lagen gedeihen können. Dieses Potenzial der Biodiversität müssen wir nutzen.

Gesprächsteilnehmer:

Sibyl Anwander ist bei Coop verantwortlich für Public Affairs und Nachhaltigkeit. Die ETH-Alumna forschte und lehrte über zehn Jahre an ihrer Alma Mater, bevor sie 2001 beim Schweizer Grossverteiler ihre Arbeit aufnahm, wo sie unter anderem den ersten Nachhaltigkeitsbericht publizierte. Sie präsidiert die Business Social Compliance Initiative (BSCI) und ist in Gremien verschiedener anderer Organisationen vertreten, die sich der Nachhaltigkeit verpflichten.

Achim Walter ist seit 2010 ordentlicher Professor für Kulturpflanzenwissenschaften am Institut für Agrarwissenschaften der ETH Zürich. Um Kulturpflanzen weiterzuentwickeln und künftige Agrarsysteme effizienter zu gestalten, forscht er an der Wachstumsleistung von Pflanzen. Er entwickelt bildverarbeitende Methoden zur Charakterisierung von Umweltreaktionen und genetischen Eigenschaften von Pflanzen.

Michael Siegrist ist seit 1. April 2007 ausserordentlicher und seit 1. August 2013 ordentlicher Professor für Consumer Behavior an der ETH Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten Risikowahrnehmung, Risikokommunikation, Akzeptanz neuer Technologien und Entscheidungen unter Unsicherheit. Spezifischer Schwerpunkt bildet dabei das Konsumentenverhalten im Zusammenhang mit Nahrungsmitteln.

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