Mathematikerin mit biologischer Ambition

Tanja Stadler erhält den diesjährigen Latsis-Preis der ETH Zürich. Die Forscherin wendet mathematische Modelle auf stammesgeschichtliche Fragen an und bringt so die klassische Phylogenie mit der modernen Epidemiologie zusammen.

Tanja Stadler
Tanja Stadler vereint stammesgeschichtliche Analysen mit der modernen Epidemiologie (Bild: Tanja Stadler / ETH Zürich)

Tanja Stadler ist eine jener Mathematikerinnen, die ihr Wissen auf Problemstellungen der realen Welt anwenden – in ihrem Fall auf Fragen aus der Biologie. Dennoch kann sie die Vorgänge, die sie untersucht, kaum je direkt beobachten. Stadler interessiert sich für Makroevolution, Phylogenie und Epidemiologie: Sie ergründet, wie Arten sich stammesgeschichtlich bilden oder vergehen, und wie epidemische Infektionskrankheiten entstehen.

«Ich versuche zu verstehen, was in der Vergangenheit geschehen ist, um Voraussagen über die Zukunft zu treffen», sagt Stadler. Anders als in der klassischen Paläontologie gräbt sie dazu nicht nach Fossilien, sondern nutzt Erbinformation, mathematische Modelle und statistisches Geschick. Und dies mit Erfolg: Im Sommer hat Stadler einen der begehrten ERC Starting Grants erhalten. Und nun wird sie für ihre Beiträge zur stammesgeschichtlichen Rekonstruktion mit dem Latsis-Preis geehrt, der bedeutendsten Auszeichnung für ETH-Nachwuchsforschende.

Fasziniert von Phylogenie

«Was mich am meisten freut, ist die Anerkennung meiner Arbeiten durch eine unabhängige Fachkommission», sagt die 32-jährige Deutsche, die 2008 als Postdoc an die ETH Zürich kam. Ihre Forschungsnische fand sie jedoch bereits früher. 2005, gegen Ende ihres Studiums der angewandten Mathematik an der TU München, las sie ein Buch über Phylogenie des neuseeländischen Mathematikers Mike Steel. Das Thema faszinierte sie derart, dass sie Kontakt aufnahm und bald darauf nach Neuseeland reiste, um an der Universität von Canterbury einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt zu beginnen. Stadler verlängerte und schrieb sodann ihre Diplomarbeit bei Steel – über die statistische Modellierung vom Werden und Sterben der Arten in der Stammesgeschichte. Mit nach Hause nahm sie nicht nur einen reichen Fundus an Erfahrungen, sondern auch ein Forschungsfeld, auf dem sie anschliessend an der TU München doktorierte.

Nach der Dissertation wollte Stadler fachlich näher zur Biologie. An der ETH Zürich fand sie das Institut für Integrative Biologie (IBZ) mit den Kernthemen Evolution und Ökologie. «Das perfekte Umfeld für meine Forschung als Postdoc», resümiert sie. Seit 2011 ist Stadler Junior-Gruppenleiterin am IBZ bei Sebastian Bonhoeffer, Professor für theoretische Biologie.

Einblick in die Evolution

Die konzeptionelle Basis für Stadlers Forschung ist der phylogenetische Baum – ein Diagramm, das evolutionäre Beziehungen darstellt, ähnlich unserem Familienstammbaum. Diese Bäume leitet die Wissenschaftlerin von sequenzierter Erbinformation ab. So untersuchte sie beispielsweise die Stammesgeschichte heute lebender Säugetierspezies. Ihre Analysen weisen darauf hin, dass die Evolution der Säuger bereits weit vor dem Aussterben der Dinosaurier begonnen haben muss. Damit rüttelt sie an der gängigen Lehrmeinung der Paläontologie, die – gestützt auf Fossildaten – genau das Gegenteil besagt. «Es ist unklar, welche Quelle die wahre Geschichte erzählt – die Fossilien oder die Gene», so Stadler. Ihr Lösungsansatz besteht darin, die beiden Quellen zu vereinen: Stadler arbeitet daran, die genetische Information mit paläontologischen Daten zu kombinieren, etwa von Fossilien, um Schlüsselfaktoren evolutiver Prozesse zu identifizieren.

Epidemien auf der Spur

Ähnlich geht die Wissenschaftlerin vor, um die treibenden Kräfte bei Epidemien zu bestimmen. Durch das IBZ hat Stadler Zugang zu HIV-Gendatenbanken, die sie nutzt, um ihre Modelle zu testen. «Das HI-Virus mutiert derart schnell, dass im Prinzip jeder Patient eine eigene Virenpopulation in sich trägt», erklärt sie. Die phylogenetischen Bäume, die Stadler aus den viralen Genen ableitet, widerspiegeln die Übertragungsgeschichte und erlauben Rückschlüsse darüber, ob sich die Epidemie ausbreitet oder zurückgeht, wie schnell sie das tut und wie hoch die Ansteckungsrate ist. Mit diesen Parametern lassen sich epidemiologische Modelle verbessern: Jüngst gelang es ihr zusammen mit Gabriel Leventhal, einem Doktoranden in Bonhoeffers Gruppe, ein neues, realistisches Modell für die Verbreitung von HIV zu entwickeln.

Solche Erkenntnisse sind auch für Gesundheitsbehörden interessant, denn sie können helfen, Massnahmen im Umgang mit Infektionskrankheiten zu formulieren, etwa gegen resistente Erreger. Stadler möchte mit ihrer Forschung soweit kommen, dass sie bei künftigen Infektionskrankheiten innerhalb kurzer Zeit beurteilen kann, ob und wie gefährlich ein Erreger ist, und wie er sich ausbreitet.

Die Zeichen dafür, dass ihr das gelingen wird, stehen gut. Eben erst hat die ETH der ambitionierten Jungforscherin eine Stelle als Assistenzprofessorin am Departement für Biosysteme (D-BSSE) in Basel angeboten. Stadler kann ihre Forschung also weiterführen. «Ich bin überglücklich», freut sie sich.

ETH-Tag 2013

Am Samstag, 16. November, begeht die ETH Zürich zum 158. Mal den ETH-Tag mit geladenen Gästen aus Forschung, Wirtschaft und Politik. Im Rahmen dieser Festveranstaltung werden verschiedene wissenschaftliche Leistungen gewürdigt. So werden die Ehrendoktoren und Ehrenräte ernannt sowie die Medaillen für hervorragende Diplom- und Master-Arbeiten vergeben. Auch der Latsis-Preis der ETH Zürich wird am ETH-Tag offiziell verliehen. Die Festansprache hält dieses Jahr Bundesrat Johann Schneider-Ammann.

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