Vertrauen kommt vor dem Verhandeln
Die Schweiz will ein neues Zuwanderungssystem. Forschungszusammenarbeit und Studierendenaustausch mit der EU sind betroffen. Nun sucht der Bundesrat das klärende Gespräch mit der EU.
Die Schweiz werde nun intensive Gespräche mit der Europäischen Union über die Zuwanderung führen, um die Interessen beider Seiten zu klären, sagte gestern der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter an einer Medienkonferenz in Bern. Vertrauen sei in der aktuellen Situation für die Schweiz wie für die EU sehr wichtig; in dieses wolle der Bundesrat in den kommenden Wochen investieren.
Schweizerinnen und Schweizer haben am Wochenende abgestimmt, dass die Schweiz die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig steuern soll. Anstatt der heute geltenden Personenfreizügigkeit soll in Zukunft die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt werden.
Wie sich diese Verfassungsbestimmung konkret auswirkt und welche Konsequenzen sie im Detail für Forschende und Studierende an der ETH Zürich hat, lässt sich derzeit noch kaum sagen. Das aktuelle Freizügigkeitsabkommen ist eng verzahnt mit anderen Abkommen, die unter anderem den Zugang zu Märkten oder Bildungs- und Forschungsprogrammen regeln.
Bund will Antworten bis Juni erarbeiten
Didier Burkhalter stellte gestern klar: «Wir haben keine neuen Zuwanderungsbestimmungen, die sofort anwendbar wären.» Und: «Das Kontingentierungssystem ist noch nicht festgelegt.» Dafür haben der Bundesrat und das Parlament drei Jahre Zeit.
Das heisst: bestehende Aufenthaltsbewilligungen bleiben gültig und die rechtliche Situation für Personen, die dank dem Freizügigkeitsabkommen in der Schweiz leben, ändert vorläufig nicht.
Beschlossen hat der Bundesrat am Mittwoch das weitere Vorgehen: Bis Ende Juni will er ein Umsetzungskonzept vorlegen. Dieses dient ihm innenpolitisch als Entscheidungsgrundlage für die Gesetzgebung. Den Gesetzesentwurf will er bis Ende 2014 vorlegen. Sollte die Arbeit am Gesetz länger dauern, könnte er das neue Zuwanderungssystem vorübergehend auf Verordnungsstufe regeln.
Zuerst Gespräche, dann wird verhandelt
Klar ist für Didier Burkhalter wie für den gesamten Bundesrat, dass im Moment Verhandlungen wenig Sinn machen. Zuerst will der Bund «exploratorische Gespräche» führen, um «die offenen Fragen Schritt für Schritt zu klären und sich für die bestmöglichen Lösungen einsetzen, sowohl innen- wie auch aussenpolitisch», sagte Burkhalter. Über welche Abkommen danach mit der EU wann und wie verhandelt wird, dazu kann er derzeit keine Aussage machen, denn dies könne die Schweiz nicht allein entscheiden.
Wer zur Beteiligung der Schweiz an «Horizon 2020», dem Rahmenprogramm der EU für Forschung und Innovation, von Burkhalter Detailangaben erwartete, wurde ebenfalls auf später verwiesen. Er erinnerte daran, dass gerade das Forschungsabkommen auch für die EU von Interesse sei, «denn die Schweiz ist ein Motor für Forschung, Bildung und Innovation in Europa.»
«Horizon 2020»: Abkommen sicherstellen
Damit sich Forschende in der Schweiz mit allen Rechten an «Horizon 2020» beteiligen können, muss der Bund das entsprechende Assoziierungs-Abkommen für Forschungsprogramme erneuern: Geplant war, dass sich die Schweiz – wie seit 2004 üblich - mit 4,4 Milliarden Franken als assoziiertes Mitglied am «Horizon 2020» -Paket beteiligen wird. Ohne ein solches Abkommen müsste die Schweiz wohl von Fall zu Fall Lösungen finden, sagte Burkhalter, warnte aber vor voreiligen Schlüssen.
Eine Frage, die der Bund und die EU beantworten müssen, betrifft die Verbindung von Personenfreizügigkeit und Forschungszusammenarbeit: Da Forschungsprogramme über das Forschungsabkommen mit den Bilateralen und dem Freizügigkeitsabkommen direkt verknüpft sind, hat die EU in den Raum gestellt, dass die Schweiz die Personenfreizügigkeit auf Kroatien ausdehnen muss, wenn sie über die Beteiligung an «Horizon 2020» verhandeln will.
Dieses Abkommen zu Kroatien hat der Bundesrat am Mittwoch jedoch aufgrund der neuen Verfassungsbestimmung nicht ratifiziert. Zuerst muss er klären, ob er das gesamte Freizügigkeitsabkommen neu zu verhandeln ist, oder ob er die Freizügigkeit mit Kroatien vorgängig regeln soll und kann und welche Anpassungen so überhaupt möglich sind.
Vergleichbar ist die Situation bei den EU-Bildungs- und Jugendprogrammen, an denen die Schweiz als assoziiertes Mitglied seit 2011 teilnimmt. Auch beim europäischen Programm für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport, «Erasmus+», hatten der Bundesrat und die Parlamentsmehrheit bis heute die nahtlose Weiterführung angestrebt.
ETH arbeitet an Lösungen
Die Schulleitung der ETH Zürich und die direkt betroffenen Fachbereiche sind sich der unklaren Situation sehr bewusst – unter ihnen sind zum Beispiel EU GrantsAccess, die Informations- und Beratungsstelle für Forschende, die sich für EU-Forschungsprogramme bewerben wollen, oder die Mobilitätsstelle und der International Student Support, die Studierende aus dem Ausland begleiten.
Sie halten sich bereit, intensiv und in engem Austausch mit den zuständigen externe Seite Stellen beim Bund an Lösungen zu arbeiten, um die Forschungszusammenarbeit und den Studierendenaustausch mit Europa gezielt weiterzuführen. In einer E-Mail wandte sich Roland Siegwart, Vizepräsident Forschung und Wirtschaftsbeziehungen, an die ETH-Forschenden und empfahl ihnen, vorderhand und mit Engagement weiter an Projektanträgen für «externe Seite Horizon 2020» und «externe Seite ERC Grants» zu arbeiten.