Zwiebelherz mit hoher Kapazität

Nach einer Bauzeit von rund sechs Jahren wird die 9,6 Kilometer lange Durchmesserlinie und der Bahnhof Löwenstrasse diese Woche in Zürich eröffnet. ETH-News sprach mit dem Bahnexperten Ulrich Alois Weidmann, Professor für Verkehrssysteme am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme, darüber, was sich mit der neuen Streckenführung und der Bahnhofserweiterung ändert.

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Professor Weidmann verfolgt das Projekt der Durchmesserlinie seit Beginn der Planung. (Bild: ETH Zürich)

Herr Weidmann, es ist soweit, der erste Teil der Durchmesserlinie wird eröffnet. Worin sehen Sie die Bedeutung dieses Grossprojektes?
Interessant ist, dass sowohl die S-Bahnlinien als auch der Fernverkehr von diesem Projekt profitieren. Die Verbindung von der südlichen Agglomeration nach Norden wird deutlich verbessert. Bei diesen S-Bahnlinien verkürzen sich die Fahrzeiten und die Leistungen steigen. Im Fernverkehr sollten die Fahrgäste vor allem bei den Ost-Westverbindungen zwischen Genf und St. Gallen eine Verbesserung, sprich eine Entlastung der Linie und eine Verkürzung der Fahrzeit spüren.

Und was ändert sich sonst für die Passagiere?
Ich denke, dass sich die Situation im Hauptbahnhof entspannen wird. Die Passagierströme können sich besser verteilen und die Wege beim Umsteigen werden tendenziell kürzer. Die neuen Passagen sind zudem sehr grosszügig gestaltet, so dass die Fussgänger stressfreier aneinander vorbeikommen.

Was fasziniert Sie als Experte am Projekt?
Wie der Bahnhof Löwenstrasse unter dem bestehenden Hauptbahnhof gebaut wurde, ist einmalig. Die Projektverantwortlichen mussten nicht nur das alte Sandsteingebäude in jeder Bauphase sichern, sondern auch die Hochwassergefahr durch die Sihl im Auge behalten –und das alles bei laufendem Bahnbetrieb! Konkret bedeutet das, dass sich während der Bauzeit täglich 300‘000 Menschen im Umfeld der Baustelle bewegten und pünktlich ihren Zug erreichen wollten. Das Bauverfahren war hochpräzise, kombiniert mit neuster Technologie – zum Beispiel zur Bauwerküberwachung. Nur so war es möglich, dieses Projekt in derart kurzer Zeit und ohne nennenswerte Störungen zu realisieren.

Aber reichen denn die vier neuen Gleise im Bahnhof Löwenstrasse aus?
Die vier Gleise ersetzen von der Kapazität her etwa acht bis zehn Gleise des Kopfbahnhofs. Beim Durchgangsbahnhof müssen die Züge nicht mehr gewendet werden und können nacheinander einfahren, was sehr viel Zeit spart. Man kennt das Prinzip ja schon vom Bahnhof Museumsstrasse, indem im Schnitt alle zwei bis drei Minuten ein Zug fährt.

Vergrösserte Ansicht: Weinbergtunnel
Der Weinbergtunnel im Bau (Bild: SBB CFF FFS)

Rechnen Sie bei der Eröffnung mit Überraschungen?
Nein, denn es handelt sich zwar um ein grosses Projekt, aber nicht um einen grundlegenden Eingriff in das System. Auf lange Sicht werden sich aber neue Fragen stellen, da der Hauptbahnhof nun ausserordentlich leistungsfähig ist. Ich vergleiche das mit einer Zwiebel: Die Durchmesserlinie ist das Herzstück mit hoher Kapazität, ohne das man nicht auskommen könnte, aber jetzt werden die äusseren Schalen kritisch: Bahnhöfe wie Hardbrücke und Stadelhofen wirken limitierend, aber auch die Einspurabschnitte im Furttal, am Rechten Zürichsee-Ufer, am Albis oder im Knonauer Amt. Nicht zu vergessen sind zudem die nationalen Engpässe Zürich – Olten und Effretikon – Winterthur.

Der zweite Teil der Durchmesserlinie wird in rund einem Jahr eröffnet. Wie geht es jetzt weiter?
Rein baulich ist dieser zweite Teil nicht mehr so anspruchsvoll und vieles ist schon fertiggestellt. Funktional ist er allerdings sehr wichtig, weil erst dann der Fernverkehr eingebunden werden kann. Die zentralen Elemente sind die beiden Brücken – die Kohlendreieckbrücke und die Letzigrabenbrücke – die ja auch im Stadtbild gut sichtbar sind. Und um an dieser Stelle mit einem weitverbreiteten Irrtum aufzuräumen: Die schöne Aussicht von den Brücken können nur die Passagiere geniessen, die aus Zürich herausfahren. Fährt man in Zürich ein, gelangt man ebenerdig in den Hauptbahnhof.

Zur Person
Ulrich Alois Weidmann ist seit 2004 ordentlicher Professor für Verkehrssysteme am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT) im Departement Bau, Umwelt und Geomatik. Zwischen 1994 und 2004 war er für die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) tätig und zunächst verantwortlich für den netzweiten Ausbau des S-Bahnverkehrs, später für die Bahntechnologie.

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