Das Verkehrssystem - eine komplexe Herausforderung
Mit rund 20 Partnern aus der Mobilitätsbranche entwickelten Forschende der ETH Zürich und der Universität St. Gallen eine Vision für die Zukunft der Mobilität in der Schweiz.
Die Schweizerinnen und Schweizer legen im Alltag immer grössere Strecken zurück und so erstaunt es wenig, dass sowohl der öffentliche Verkehr als auch die Strassen zu Spitzenzeiten bereits heute überlastet sind. Künftig wird die Mobilitätsbranche vor noch grösseren Herausforderungen stehen, da einerseits der Verkehr stark zunimmt und andererseits für den Ausbau der Infrastrukturen nicht mehr finanzielle Mittel als heute zur Verfügung stehen werden. «Ein gutes Verkehrssystem ist für die Gesellschaft jedoch so wichtig wie die Blutbahnen für einen Organismus», sagt Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme an der ETH Zürich. Dabei ist das Verkehrssystem eingebettet in einen sozialen, ökologischen und ökonomischen Kontext. Das macht die Suche nach dem Konsens zwischen unterschiedlichsten Akteuren mit ihren jeweiligen Interessen herausfordernd.
So viele Partner diskutieren wie noch nie
Unterschiedliche Sichtweisen und Expertisen können aber auch buchstäblich neue Wege aufzeigen. Aus diesem Grund haben sich Forschende des Instituts für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich und des Lehrstuhls für Logistikmanagement der Universität St. Gallen mit 20 grossen Akteuren aus dem schweizerischen Verkehrsmarkt an einen Tisch gesetzt. Involviert waren unter anderem klassische Transport- und Logistikunternehmen wie SBB, DHL und Swiss, aber auch Akteure wie Migros oder Siemens. Das gesammelte Wissen wurde in mehreren Workshops zusammengetragen und zu einer gemeinsamen Vision einer «wünschbaren guten Mobilität» konsolidiert.
Prognose für das Jahr 2050
In einem ersten Schritt wurde eine Prognose für die Entwicklung der Verkehrsleistungen bis 2050 erstellt. Diese basiert auf bestehenden Prognosen, einer Trendanalyse und den Einschätzungen des Forschungsteams und der Fachleute aus der Praxis. Demnach nehmen sowohl der Güter- als auch der Personenverkehr in der Luft, auf der Schiene und auf der Strasse bis 2050 weiter zu. Dies vor allem dort, wo ohnehin schon Engpässe bestehen; namentlich in, um und zwischen den Agglomerationen. Grundlegende Veränderungen erwarten die Forscher beim Transportsystem an sich: «Die Verkehrssysteme im Jahr 2050 werden nur noch äusserlich den heutigen gleichen», sagt Weidmann. Insbesondere erwartet er, dass die Abläufe immer stärker automatisiert werden. So werden künftig nicht nur Flugzeuge, Züge oder auch Autos vermehrt automatisch gesteuert, sondern auch Kunden hauptsächlich digital bedient.
Handlungsempfehlungen an die Politik
In einem zweiten Schritt diskutierten die Wissenschaftler mit den Fachleuten aus der Praxis den wünschenswerten Zielzustand für das Jahr 2050. Sie einigten sich auf ein gemeinsames Werteverständnis und leiteten daraus Zielbildthesen ab, welche den Zielzustand skizzieren. Beispiele für solche Thesen sind, dass das zukünftige Verkehrssystem als Ganzes finanziell selbsttragend sein soll oder dass ein verantwortungsbewusster Umgang mit knappen Ressourcen – etwa nicht-erneuerbare Energien oder Boden – zentral ist.
Aus der Gegenüberstellung dieses Zielzustandes und der Perspektive, welche sich aufgrund aktueller Rahmenbedingungen einstellen würde, erarbeiteten die Forschenden schliesslich als drittes Handlungsempfehlungen für die politischen Entscheidungsträger. Die Forschenden empfehlen den Politikerinnen und Politikern unter anderem, dass die Infrastruktur und das Verkehrsangebot künftig nur noch dann ausgebaut werden soll, wenn Engpässe bestehen und diese durch andere Massnahmen wie intelligente Bewirtschaftung nicht behoben werden können. Auch schreiben sie, dass die Entwicklung von Randregionen nicht allein über zusätzliche Verkehrssysteme vorangetrieben werden soll. Im Gegenteil: Die Wissenschaftler raten dazu, Infrastrukturen, die nicht genügend genutzt werden, stillzulegen und rückzubauen. Auch kommt die Studie zum Schluss, dass die Raumplanung vermehrt an der bestehenden Infrastruktur auszurichten ist und nicht umgekehrt. Dies würde bedeuten, dass grundsätzlich an bereits gut erschlossenen Punkten gebaut wird. Auch eine Möglichkeit könnte es sein, die steuerlichen Entlastungen für Dienstreisen und Arbeitswege aufzuheben, um dem wachsenden Pendlerstrom Einhalt zu gebieten.
Zwei Erkenntnisse sind für Weidmann abschliessend zentral: «Informationstechnologie wird alle Systeme durchgreifend revolutionieren und statt über Kapazitätsausbau werden wir künftig viel mehr über Kapazitätsbewirtschaftung sprechen müssen». Dieser Umstand verlange auch neue Formen der Lenkung und möglicherweise einen umfassenden Masterplan.