Die ETH-Bibliothek wird digital – und bleibt ein Hort der Bücher
Die Digitalisierung verändert die Welt. Bibliotheken müssen sich künftig noch mehr auf diesen Umstand einlassen, dürfen sich aber nicht darauf beschränken, Lernende und Forschende durch das Datenmeer zu lotsen, schreibt Ulrich Weidmann, Vizepräsident für Personal und Ressourcen der ETH Zürich und zuständig für die ETH-Bibliothek. Die ETH-Bibliothek wird auch langfristig das gesamte nachgefragte Medienspektrum pflegen und anbieten.
Zuspitzung belebt jede Debatte, bisweilen zulasten wichtiger Elemente, auch wenn dies in bester Absicht geschieht. In der Ausgabe vom 7. Februar 2016 der «NZZ am Sonntag» hat sich ETH-Bibliotheksdirektor Rafael Ball pointiert zur Zukunft der Bibliotheken geäussert. Zu pointiert, wie er schmerzlich erfahren musste. Das Spektrum der Reaktionen, zumal von Experten, reicht von heftiger Sachlichkeit bis zu befremdlicher Gegenprovokation.
Das Interview wurde als Abbild einer Gesamtstrategie wahrgenommen, was es nicht sein wollte. Es konnte der Eindruck entstehen, die ganze physische Literatur sowie die Archive und Sammlungen mit ihren einmaligen historischen Dokumenten würden in der digitalen Zukunft von Bibliotheken, speziell der ETH-Bibliothek, keine Rolle mehr spielen. Dem ist keineswegs so. Die ETH Zürich steht uneingeschränkt zu ihrer Bibliothek und es ist nicht unsere Absicht, uns vom gedruckten Bestand zu verabschieden.
Die ETH Zürich investiert seit Jahrzehnten Intelligenz und Geld in eine Bibliothek, welche ihrer Stellung in Lehre und Forschung ebenbürtig ist. Darin verkörpern auch gedruckte Bücher und Zeitschriften mit ihrem kulturhistorischen Wert ein unverzichtbares Fundament. Die ETH hat ausserdem vom Bund den Auftrag, neben der Informationsversorgung für die Wissenschaften Kulturgüter verschiedener Art zu schützen, zu pflegen und für die Nachwelt zu erhalten. Diese zentrale Aufgabe erfüllen wir engagiert, professionell und überzeugt.
Dass die zunehmende Verfügbarkeit von Wissen über das Internet dem Gedrucktem seit Jahren immer stärker den Rang abläuft, steht allerdings ausser Frage. Wissenschaftlich ausgerichtete Bibliotheken wie jene der ETH spüren diesen dramatischen Wandel am direktesten: So hat sich in den letzten fünf Jahren die Zahl der Zugriffe auf das elektronische Wissensportal der ETH-Bibliothek verdoppelt. Die Zugriffe auf digitalisierte Schweizer Zeitschriften haben sich innert zwei Jahren gar verzwölffacht. Im Jahr 2015 stehen 266‘000 physischen Ausleihen rund 6.2 Millionen Online-Zugriffe gegenüber. Zahlreiche höchstkotierte wissenschaftliche Journals sind gar nicht mehr als gedruckte Version erhältlich.
Es bleibt damit der Spagat zwischen den Bedürfnissen der Naturwissenschaftler, Ingenieurinnen und Ingenieure, die ihr Wissen weitgehend digital sammeln und verarbeiten, und jenen von Kulturwissenschaftlern, für die das Buch noch lange ein zentrales Medium bleiben wird. Dies ist aber kein Widerspruch: Gerade die digitale Erschliessung von analogen Inhalten ist ein Beispiel dafür, wie neue Technologie die historischen Dokumente sehr breit zugänglich machen und gleichzeitig besser vor Beeinträchtigung bewahren kann. Dies ist heute ein Schwerpunkt der ETH-Bibliothek. Dabei stellen sich neue Fragen, etwa: Wie können Digitalisate langfristig haltbar gemacht werden? Wie abhängig machen wir uns mit der Digitalisierung von der Technik? Wie konservieren wir Bücher neueren Datums, deren Papier bisweilen nach wenigen Jahrzehnten zerfällt? Wie sichern wir langfristig den Zugriff auf primäre digitale Informationen? Die ETH stellt ihre gesamte Kompetenz zur Verfügung, um qualifizierte Antworten zu entwickeln.
Die Bibliothek ist mithin herausgefordert in einer Welt, in welcher sich Inhalte und Trägermedium zu trennen beginnen. Ihre Aufgaben werden damit noch vielfältiger und interdisziplinärer. Wir werden noch stärker werten müssen, wollen wir nicht in der Masse der Daten und Dokumente ersticken: Welche digitalen Inhalte müssen unbedingt bewahrt werden? Welches gedruckte Exemplar ist nicht im Rang eines Kulturgutes von bleibendem Wert und verzichtbar? Die Massstäbe dafür müssen Bibliotheken gemeinsam mit Wissenschaft und Gesellschaft erarbeiten.
Kultur bedeutet letztlich Pflege, und auch zu diesem Anspruch bekennt sich die Bibliothek der ETH Zürich. Wir werden deshalb das gesamte Spektrum von Medien langfristig bereithalten, egal ob gedruckt oder digital. Und ganz besonders bleiben unsere Bibliotheken auch Ort des Lesens, Lernens und Sich-Austauschens unter wissbegierigen Menschen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der «NZZ am Sonntag» vom 21.02.2016.