Erblasst im Licht einer Trennung
Korallenriffe sind prächtige Gemeinschaften von Korallen und Algen. Wird es heiss, gehen die Algen, und die Korallen bleichen aus. Auf politischer Ebene lehrt uns der Brexit, wie wertvoll Partnerschaften sind. Doch die Ereignisse im Vereinigten Königreich sind im Vergleich zur Korallenbleiche nur ein leises Rauschen im Hintergrund.
Das überhitzte Vorspiel zum Referendum über die EU-Mitgliedschaft im vergangenen Monat hatte die Qualität eines Fieberschubes erreicht – mit dem nur allzu gut bekannten Resultat, dass das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen wird. Zweifellos sind die Handelsbeziehungen zwischen EU und UK eng genug, als dass der Austritt bleibenden wirtschaftlichen Schaden zur Folge hätte. Ich befürchte dennoch, dass das Land nach dem Referendum in vieler Hinsicht nur ein blasser Schatten seiner selbst sein wird.
Partnerschaften können schwierig sein, ja selbst turbulent. Doch sind sie ausnahmslos erfolgreicher als lose Gruppen unorganisierter, sich gegenseitig misstrauender Individuen. Dies hatte bereits Aesop in seiner Fabel Drei Stiere und der Löwe treffend beschrieben. Auch Niccolò Machiavelli war sich dieser Tatsache bewusst, als er in seiner Abhandlung The Art of War räsonierte, ein Feldherr müsse jede Gelegenheit wahrnehmen, seine Feinde zu entzweien und gegeneinander aufzubringen. Julius Caesar handelte im Krieg gegen die Gallier nach dem Grundsatz Divide ut regnes – eine Strategie, die sich seither vielfach bewährt hat. Der Umkehrschluss «United we stand, divided we fall» wurde zum Schlachtruf von Rebellen und Unterdrückten, die sich gegen Despoten erhoben.
Nichtsdestotrotz ist das Referendum nun Geschichte und die Zukunft ungewiss. Sicher jedoch ist: Die Konsequenzen des britischen Austritts werden verschwindend klein sein im Vergleich zur tiefen Krise einer anderen Partnerschaft, die bis vor kurzem lange Perioden der Erdgeschichte unbeschadet überstanden hat.
«Divided we fall»
Zurzeit erlebt die Welt die bisher längste und umfangreichste Korallenbleiche der Geschichte. Die Oberflächentemperaturen der tropischen Meere waren im vergangenen Jahr alarmierend hoch. Unter solchen Bedingungen verlieren Korallen ihre symbiontischen Mikroalgen (Zooxanthellen), die den Korallen ihre leuchtenden Farben verleihen. Doch es geht nicht nur um Farben: Zooxanthellen versorgen Korallen auch mit reichlich organischem Kohlenstoff aus der Algen-Photosynthese. Steigen die Wassertemperaturen, werden die Zooxanthellen aus der Korallenstruktur vertrieben. Zurück bleibt ein blasser Schatten der früheren Farbenpracht. Derartige Trennungen, die in den letzten Jahrzehnten häufiger und stärker erfolgten, erhöhen nicht nur die Korallensterblichkeit, sondern verringern auch das Wachstum der überlebenden Korallen.
Korallen bestehen nicht nur aus Partnerschaften zwischen Korallen und Zooxanthellen. Skelett und Gewebe von Korallen enthalten grosse Populationen von Mikroalgen, Bakterien und Archaeen. Gemeinsam halten sie das Korallenriff gesund: Einige Bakterien regulieren beispielsweise den Stickstoffhaushalt, indem sie die Koralle mit rund der Hälfte ihres Stickstoffbedarfs versorgen, andere wiederum bauen Abfallstoffe ab.
«United we stand?»
Korallen können sich von der jüngsten Bleiche erholen, etwa nach einem Jahrzehnt, sofern die Bleiche nicht zu lange dauert und keine weitere folgt. Wenn sich wunderbar farbenfrohe Korallenriffe in geisterhafte, beinahe leblose Silhouetten verwandeln, ist das zwar ein schockierender Anblick. Doch ausgebleichte Korallen bleiben immerhin am Leben, sei es auch nur für eine bestimmte Zeit. Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 15’000 Jahren fanden tatsächlich wiederholt Temperaturwechsel statt, während derer die Temperaturen an der Meeresoberfläche im Verlauf von 100 bis 1’000 Jahren stark anstiegen. Riffe sind während dieser Perioden weitergewachsen, und falls es überhaupt zu Korallenbleiche gekommen ist, haben sich die Korallen offensichtlich rasch erholt.
Allerdings haben wir es heute mit einer anderen Situation zu tun: Die Meere waren in der postglazialen Zeit kühler, und die aktuelle Erwärmung wird von einem rapide ansteigenden Kohlendioxid-Gehalt in der Atmosphäre begleitet, der die Ozeane versauert und Kalziumkarbonat auflöst – das Material, aus dem Korallen bestehen. Auch Verschmutzung und starke Sedimentablagerungen durch Landwirtschaft und Industrie belasten die Korallenriffe zusätzlich. Intensiver Fischfang dezimiert zudem jene Fische, die sich von Makroalgen ernähren, wodurch diese sich ausbreiten und die Korallen überwuchern.
Trotz all dieser Bedrohungen sind Korallenpopulationen und die mit ihnen zusammenlebenden Zooxanthellen, Bakterien und Archaeen wahrscheinlich weit anpassungsfähiger, als ursprünglich vermutet. Die partnerschaftlichen Gemeinschaften könnten nämlich in der Lage sein, sich neu zu formieren, so dass sie mit den Stressfaktoren zurechtzukommen. Das würde bedeuten, dass sich die Gemeinschaft von Korallen, Algen und Mikroben weitaus schneller an Veränderungen anpassen kann als jede genetische Adaption. Allerdings wissen wir noch zu wenig darüber, wie diese komplexe Partnerschaft funktioniert, um vorhersagen zu können, ob Korallen den Sturm menschlicher Einflüsse überstehen werden.
Was Bleiche und Brexit verbindet
Korallenriffe und das Vereinigte Königreich haben vieles gemeinsam. Beide nehmen nur einen kleinen Teil der Ozeane weltweit ein, sind aber dennoch die Basis von sehr viel Diversität – biologischer Diversität im Falle der Korallenriffe, menschlicher und kultureller Diversität im Falle des Vereinigten Königreichs. Mehr als 450 Millionen Menschen leben nahe bei Korallenriffen und profitieren von ihnen. Eine vergleichbare Anzahl Menschen lebt in der EU, nahe beim Vereinigten Königreich, und profitiert davon. Wenn es heiss wird, ziehen sich Zooxanthellen von selbst aus der produktiven Partnerschaft zurück. Das Vereinigte Königreich scheint nun dasselbe zu tun. Im Laufe der Zeit wird sich die komplexe Gemeinschaft, die ein Korallenriff bildet, wohl erholen, so wie sich auch die Partnerschaft des Vereinigten Königreichs und der EU erholen wird, indem sie mit den neuen Herausforderungen umzugehen lernen.
Zwischen den beiden Gemeinschaften besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied: Das Schlimmste, womit die EU und das Vereinigte Königreich wohl rechnen müssen, ist eine Periode der Unsicherheit und möglicherweise eine wirtschaftliche Rezession. Sollten Korallenriffe es hingegen nicht schaffen, angesichts der umweltbezogenen Bedrohungen als Gemeinschaften fortzubestehen, würden nicht nur die Korallen sterben, sondern auch geschätzte 25 Prozent der weltweiten Meeresflora und -fauna, deren Lebensgrundlage Korallenriffe sind.