Vom Kern zum Cern - oder die Farben der Freiheit in der Teilchenphysik

Was erzählen kleinste Teilchen, die in Protonen eingesperrt sind, darüber, wie das Weltall begann und wie es enden wird? In dieser Woche hält Physik-Nobelpreisträger David Gross an der ETH Zürich im Rahmen der Paul Bernays Vorlesungen drei öffentliche Vorträge zum Thema «Ein Jahrhundert Quantenphysik – von der Kernphysik zur Stringtheorie und weiter».

Vergrösserte Ansicht: Wieso bewegen sich Quark-Teilchen umso freier je näher sie zusammen sind und was sagt das über die Welt aus? Physik-Nobelpreisträger David Gross spricht an der ETH. (Bilder: Getty Images / LANL)
Wieso bewegen sich Teilchen umso freier je näher sie sich sind und was sagt das über die Welt? Davon berichtet Nobelpreisträger David Gross. (Bild: Getty Images / LANL)

Im Innersten von Atomkernen passieren Dinge, die merkwürdig klingen: Wenn zwei Teilchen nahe zusammenrücken, wird die Kraft, die zwischen ihnen wirkt, nicht stärker, sondern schwächer. Umgekehrt wird die Wechselwirkung zwischen ihnen umso stärker je weiter sie sich voneinander entfernen. Wie ein Gummiband, das zwei Kugeln zusammenhält, koppelt diese Kraft die Teilchen aneinander und hält sie im Atomkern fest.

Physiker bezeichnen diese Kraft als «starke Wechselwirkung» und zählen sie zu den vier Grundkräften, die das Verhalten von Körpern, Feldern, Teilchen und Systemen bestimmen. Die anderen drei Grundkräfte sind die schwache Wechselwirkung, der Elektromagnetismus und die Gravitation.

Die Wirkungen der «asymptotischen Freiheit»

Intuitiv widerspricht die starke Wechselwirkung der Erfahrung, die Menschen im Alltag machen. Auch für die Physiker war dieses Phänomen, das man heute die «asymptotische Freiheit» nennt, lange ein Paradox. Bis 1973. Dann gelang es David Gross, David Politzer und Frank Wilczek aufzuzeigen, dass eine bestimmte Klasse von Theorien die richtige war, um die starke Wechselwirkung und die «asymptotische Freiheit» schlüssig zu beschreiben. Dafür erhielten die drei 2004 den Nobelpreis für Physik.

«Diese Theorie und die Vorhersagen, die sie ermöglicht, waren ein wichtiger Schritt, um das Standardmodell der Teilchenphysik zu vollenden», sagt Charalampos Anastasiou, ETH-Professor für Theoretische Teilchenphysik. Das Standardmodell beschreibt die Elementarteilchen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen.

«Gross’ Forschung half mit, dass wir heute das Verhalten von Teilchen genauer verstehen. Das hat auch die Forschung mit dem LHC-Teilchenbeschleuniger am Kernforschungszentrum Cern weitergebracht», sagt Anastasiou, der mit seinen theoretischen Überlegungen und mathematischen Modellen seinen Teil zum Verständnis der Eigenschaften des Higgs-Boson-Teilchens beitrug. Die Existenz dieses Teilchens konnten die Physiker 2012 mit dem Large Hadron Collider experimentell nachweisen.

«Das vergangene Jahrhundert sah die Vollendung einer Theorie der Atom- und Kernmaterie. Diese Theorie ist bemerkenswert erfolgreich.»David Gross

Nun kommt David Gross an die ETH Zürich: Als Referent der Paul Bernays Vorlesungen wird er allgemeinverständlich darstellen, wie sich die Teilchenphysik in den vergangenen hundert Jahren – von der Kernphysik zur Stringtheorie und weiter – entwickelt hat. «Auf der Grundlage der Quantenmechanik und der relativistischen Feldtheorie sah das vergangene Jahrhundert die Vollendung einer Theorie der Atom- und Kernmaterie», sagt David Gross, «diese Theorie ist bemerkenswert erfolgreich. Das überrascht vielleicht am meisten, dass die Grundprinzipien, die vor fast hundert Jahren formuliert worden sind, so robust und leistungsfähig geblieben sind.»

Physik mit philosophischem Anstrich

Die Paul Bernays Vorlesungen sind eine Ehrenvorlesungsreihe der drei ETH-Departemente Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, Mathematik und Physik. Sie ist der Philosophie der Logik, Mathematik und Physik gewidmet. Eingeladen werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Forschung die Grundlagen, Methoden und Begriffe der exakten Wissenschaften reflektiert und weiterentwickelt.

«David Gross verkörpert diese Verbindung von physikalischer Grundlagenforschung und wissenschaftsphilosophischer Relevanz ganz hervorragend, schliesslich hat er Theorien und Konzepte in die Teilchenphysik eingeführt, die unser heutiges Verständnis der materiellen Wirklichkeit ganz entscheidend prägen», sagt Norman Sieroka. Der ETH-Philosoph ist Beirat der Paul Bernays Vorlesungen und Autor einer «Philosophie der Physik».

Tatsächlich werfen die Entdeckung der asymptotischen Freiheit und die theoretischen Arbeiten von David Gross ein Schlaglicht auf die Geschichte der Teilchenphysik und wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg aus der früheren Kernphysik heraus entwickelt und etabliert hat: Seit 1911 wussten die Physiker, dass sich Atomkerne aus Protonen und Neutronen zusammensetzen und von einer Atomhülle aus frei beweglichen Elektronen umgeben sind.

Die Spur der «Farbladung»

Vergrösserte Ansicht: Für das Cern hat David Gross 2008 ein Poster der «asymptotischen Freiheit der Quarks» gezeichnet. (Bild: Volker Steger / Cern)
David Gross und die «asymptotische Freiheit der Quarks». (Bild: Cern / Volker Steger)

In den 1960 Jahren häuften sich die überraschenden experimentellen Ergebnisse, die damals theoretisch nicht zu erklären waren, wie David Gross in seiner Nobelpreisrede von 2005 darlegt. Die Erklärung fanden Gross, seine Mitstreiter und andere Physiker auf der nächsttieferen Ebene im Atom: dort wirken diejenigen Kernkräfte, die die Atomkerne überhaupt erst entstehen lassen – und die es letzten Endes ermöglichen, dass die Materie in der Natur dauerhaft bestehen kann und nicht sofort zerfällt.  

Auf dieser tieferen Ebene bestehen die Protonen und Neutronen ihrerseits aus Teilchen – aus Quarks und aus Gluonen. Die starke Wechselwirkung «sperrt» die Quarks im Innern der Protonen «ein» und hält sie so dicht zusammen, dass die Protonen stabil bestehen können. Der Grund dafür ist eine Eigenschaft der Quarks und der Gluonen, die die Physiker die «Farbladung» nennen.  Die Theorie, die die starke Wechselwirkung zwischen Teilchen mit Farbladung beschreibt, heisst «Quantenchromodynamik» oder kurz: QCD. Sie zählt zu den Quantenfeldtheorien und ist Teil des Standardmodells der Teilchenphysik.

Die Strings und die grosse Vereinheitlichung

Dieses Standardmodell beschreibt die Teilchen und Wechselwirkungen. Es ist jedoch unvollständig: es erfasst die Gravitation nicht. Die Frage stellt sich, ob und wie sich eine vereinheitlichte Theorie formulieren liesse.

Auch für Gross: «Die schwierigsten und zugleich faszinierendsten Fragen, denen wir heute in der Grundlagenphysik gegenüberstehen, sind: Wie können wir alle Kräfte der Natur einschliesslich der Gravitation vereinheitlichen? Wird sich unser grundlegendster Begriff der physikalischen Wirklichkeit, namentlich jener der Raumzeit, verändern und wie? Können wir verstehen, wie das Weltall begann und wie es enden wird?»

«Als aussichtsreichster Kandidat für eine Theorie, die alle vier Grundkräfte vereinheitlichen kann, gilt heute die Stringtheorie», sagt Anastasiou. Auch auf diesem Gebiet hat sich Gross hervorgetan. Ursprünglich waren die ersten Stringtheorien in den 1960er-Jahren entstanden, um die starke Wechselwirkung zu beschreiben. Das gelang nicht. In den 1980er-Jahren konnte Gross jedoch zum ersten Mal zeigen, dass die Stringtheorie im Prinzip alle bekannten Elementarteilchen beschreiben kann.

«Gross hat damit wesentlich zum Boom der Stringtheorie beigetragen und dazu, dass man sie wissenschaftlich ernst nimmt», sagt Anastasiou, der wie Sieroka gespannt ist, wie Gross die weitere Entwicklung der Teilchenphysik sieht.

Paul Bernays Vorlesungen 2017

Ein Jahrhundert Quantenphysik – von der Kernphysik zur String Theorie und weiter
Paul Bernays Vorlesungen 2017 von Prof. David Gross, Nobelpreis für Physik 2004, Universität von Kalifornien, Santa Barbara (USA).

Alle Vorträge finden an der ETH Zürich im Auditorium F 3 des Hauptgebäudes, Rämistr. 101, 8006 Zürich, statt:

1. Vorlesung (allgemeinverständlich):
A Century of Nuclear Physics

Dienstag, 12. September 2017, 17.00 Uhr

2. Vorlesung (Grundkenntnisse):
Quantum Field Theory: Past, Present, Future

Mittwoch, 13. September 2017, 14.15 Uhr

3. Vorlesung (Fachwissen):
Gauge – Gravity, or Open – Closed String Duality

Mittwoch, 13. September 2017, 16.30 Uhr

Alle Vorträge werden auf Englisch gehalten und sind in sich abgeschlossen.

Weitere Informationen finden Sie unter:  www.ethz.ch/bernays

Literaturhinweise

Gross DJ. The discovery of asymptotic freedom and the emergence of QCD. PNAS, 2005, 102: 9099–9108, doi: externe Seite 10.1073/pnas.0503831102.

Anastasiou C, Duhr C, Dulat F, Furlan E, Gehrmann T, Herzog F, Lazopoulos A, Mistlberger B: High precision determination of the gluon fusion Higgs boson cross-section at the LHC. Journal of High Energy Physics, 2016, 5: 1-101, doi: externe Seite 10.1007/JHEP05(2016)058

Sieroka N. Philosophie der Physik. Eine Einführung. C.H. Beck, 2014.

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