Migrationsmodell für Grossbritannien

ETH-Forschende entwickelten einen praktikablen Ansatz für die Lösung der Migrationsfrage in den Brexit-Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der EU. Pate stand ein Mechanismus in den bilateralen Verträgen der Schweiz.

Grossbritannien muss seine künftigen Beziehungen mit der EU neu verhandeln. (Bild: www.colourbox.com)
Grossbritannien muss seine künftigen Beziehungen mit der EU neu verhandeln. (Bild: www.colourbox.com)

Die britische Premierministerin Theresa May hat keine einfache Aufgabe vor sich, wenn sie die künftige Beziehung ihres Landes zur EU verhandeln muss. Der erste Teil der Brexit-Verhandlungen wird zwar noch vergleichsweise überschaubar sein: Die Rückzugsvereinbarung – die eigentliche «Scheidung» von der EU – benötigt bloss die Zustimmung des Europäischen Parlaments und von 20 Mitgliedstaaten. Komplexer werden allerdings die Verhandlungen für eine Rahmenvereinbarung werden, welche die künftigen gegenseitigen Beziehungen regelt. Dies nur schon deshalb, weil da die einstimmige Zustimmung von mehr als 30 nationalen und regionalen Parlamenten in Europa erforderlich sein kann.

Könnten die komplexen bevorstehenden Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der EU vom flexiblen und massgeschneiderten Schweizer Modell mit den bilateralen Verträgen inspiriert werden? Michael Ambühl, Professor für Verhandlungsführung, und die in seiner Gruppe arbeitenden Wissenschaftler Daniela Scherer und Martin Gutmann schliessen es nicht aus.

Migration im Einklang mit Freizügigkeit

Der zukünftige Wohlstand der britischen Wirtschaft hängt auch vom Zugang zum europäischen Binnenmarkt ab. Dieser Markt beruht auf vier Binnenmarkt-Freiheiten – dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften über innereuropäische Grenzen hinweg. Die Regulierung von ausländischen Arbeitskräften, und somit der Migration, scheint jedoch für Teile der britischen Bevölkerung prioritär zu sein.

Mit fast 3 Millionen EU-Ausländern, die in Grossbritannien leben und arbeiten, und 1,2 Millionen britischen Bürgern in EU-Ländern wird das Thema Migration wahrscheinlich zu den Top-Themen der Brexit-Verhandlungen gehören. Das Thema hat 2016 nicht nur das britische Referendum beeinflusst, sondern könnte auch zu einem bestimmenden Faktor in den künftigen Beziehungen Grossbritanniens zur EU werden. Wie kann Grossbritannien – sollte es Zugang zum Binnenmarkt haben wollen – die Migration so regulieren, dass sie dem Grundsatz der Freizügigkeit nicht widerspricht? Dies ist eine der zentralen Fragen.

Migrationsmodell mit Schutzklausel

ETH-Professor Ambühl und seine Doktorandin Daniela Scherer haben ein neues flexibles Migrationsmodell mit einer Schutzklausel entwickelt, die einerseits den Grundsatz der Freizügigkeit gewährleistet, andererseits aber auch temporäre Massnahmen bei aussergewöhnlich hoher Migration zulässt.

In der bestehenden EU-Gesetzgebung gibt es Beispiele solcher Schutzklauseln, und auch im Freizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU ist eine Schutzklausel vorhanden, allerdings ohne konkrete Zahlen zu nennen. Ambühls und Scherers Vorschlag für eine Migrationsschutzklausel für Grossbritannien bietet einen Rahmen, in dem das Land zum guten Funktionieren des europäischen Binnenmarkts beiträgt, jedoch bei übermässiger Migration diese einschränken könnte.

Von technischen Wissenschaften inspiriert

Bei der Entwicklung des Schutzklauselmodells haben sich die ETH-Forschenden von der technischen Wissenschaft inspirieren lassen: Ingenieure beschäftigen sich mit praktischen Problemen und möchten unter vorgegebenen Restriktionen bestmögliche Lösungen finden. Mit der an der ETH Zürich entwickelten Methode des «Negotiation Engineerings» können komplexe Probleme in kleinere Teilprobleme zerlegt und in der Sprache der Mathematik ausgedrückt werden. Mit diesem Ansatz werden beispielsweise abstrakte Formulierungen wie «ernsthafte wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten» und «geeignete Massnahmen» in konkrete und quantitativ messbare Formulierungen übersetzt. «Der Einsatz mathematischer Modelle ermöglicht es, emotionale Diskussionen in nüchterne, quantitative Verhandlungen zu überführen», sagt Ambühl.

Die Beziehungen der Schweiz zur EU sind ein sorgfältig ausgehandeltes und komplexes Netz von bilateralen Abkommen. Wird ein ähnlicher Ansatz für Grossbritannien funktionieren? Trotz der offensichtlichen sozioökonomischen und politischen Unterschiede zwischen den beiden Ländern sieht Scherer entscheidende Ähnlichkeiten: «Die Schweiz und Grossbritannien teilen einen ‹Souveränitätsreflex›, einen Freihandelsgeist und sind auf eine partnerschaftliche Kooperation mit der EU angewiesen.»

Literaturhinweise

Ambühl M, Gutmann M, Scherer D: Debate: The Swiss model – a viable role model for a post-Brexit settlement? Public Money & Management, 8. November 2017, doi: externe Seite10.1080/09540962.2017.1393930

Langenegger TW, Ambühl M: Negotiation Engineering: A Quantitative Problem-Solving Approach to Negotiation. Group Decision and Negotiation, 6. Oktober 2017, doi: externe Seite10.1007/s10726-017-9547-5

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