Klimarisiko Schadinsekten
Forscher der ETH Zürich und von Agroscope modellieren, wo Schadinsekten künftig vorkommen. Dies hilft, potenzielle Invasoren frühzeitig zu erkennen und für die Landwirtschaft mögliche Abwehrmassnahmen zu planen.
Der Klimawandel lässt nicht nur Gletscher schmelzen, das Laub früher im Jahr austreiben und Bergblumen höher steigen, er verändert auch die klimatischen Bedingungen für das Vorkommen von landwirtschaftlichen Schädlingen wie Bakterien, Viren, Pilze und Insekten.
Schon heute stehen Kulturpflanzen unter hohem Druck durch Schadorganismen, und mit der erwarteten weiteren Erwärmung dürfte der Druck noch steigen. Beispielsweise Insekten: Laufend siedeln sich in Europa und der Schweiz neue Arten an, die teilweise von anderen Kontinenten als blinde Passagiere eingeschleppt werden.
Das jüngste Beispiel ist die Kirschessigfliege (Drosophila suzukii). 2008 wurde die aus Südostasien stammende Fliege erstmals in Italien und Spanien gefunden, 2011 zum ersten Mal in der Schweiz. Mittlerweile ist sie bis nach Südschweden vorgedrungen und erobert den Balkan im Sturm. Die Kirschessigfliege verursacht grosse Schäden an Beeren, Früchten und Trauben.
Vorsorgen mit Modellen
Um vor solchen bösen Überraschungen gewappnet zu sein, hat das Nationale Zentrum für Klimadienstleistungen (NCCS) finanzielle Mittel bereitgestellt, um die zukünftige Verbreitung solcher Schadinsekten zu untersuchen. Loïc Pellissier, Professor für Landschaftsökologie der ETH Zürich, und seine Gruppe erstellen nun mithilfe von Computersimulationen Szenarien zur Entwicklung und Verbreitung ausgewählter potenzieller Schadinsekten sowie von land- und forstwirtschaftlich wichtigen Pflanzen. Die Szenarien sollen als Basis dienen für die Planung von Schutzmassnahmen für Kulturen und Wälder.
Pellissiers Doktorand Marc Grünig ist derzeit daran, ausgehend von bestehenden Klimaszenarien die potenzielle künftige Verbreitung von 90 verschiedenen Schadinsektenarten, von denen die meisten in Europa noch nicht nachgewiesen wurden, die aber durchaus eingeschleppt werden könnten. Die Grundlage für seine Auswahl liefert eine externe Seite Liste der European and Mediterranean Plant Protection Organisation. Grenzkontrollen an europäischen Flughäfen und Häfen fangen bereits heute viele dieser Quarantäneschädlinge ab und zeigen damit auf, dass eine echte Invasionsgefahr besteht. Dazu modelliert Grünig auch, wo 110 Nutzpflanzen und 25 Baumarten vorkommen könnten.
Fruchtfliege am Polarkreis?
Obwohl der ETH-Doktorand noch am Anfang seiner Arbeit steht, kann er ein Beispiel präsentieren: die Apfelfruchtfliege (Rhagoletis pomonella). Sie kommt derzeit nur in Nordamerika und Mexiko in Apfelanbaugebieten vor. In Europa ist sie noch nicht nachgewiesen. Grünig hat für diese Art modelliert, wo sie in Europa im Jahr 2020 passenden Lebensraum vorfinden würde. Die Verbreitungskarte des potenziellen Vorkommens zeigt, dass vor allem Süd- und Mitteleuropa geeignete Lebensbedingungen bieten würden. Nordeuropa und die britischen Inseln wären für die Fruchtfliege nicht oder nur sehr dünn besiedelbar.
Im Jahr 2060 unter Annahme fortschreitender Klimaerwärmung könnte das Insekt aber weit im Norden Europas geeignete Lebensbedingungen antreffen. Südliche Gefilde ums Mittelmeer könnten für die Apfelfruchtfliege hingegen zu heiss und zu trocken geworden sein. Es gäbe dort aus klimatischen Gründen auch ihre Wirtspflanze, den Apfelbaum, nicht mehr.
Basis von Grünigs Modellen sind Daten aus verschiedenen Klimaszenarien und solche über das momentane Vorkommen der Schadinsekten respektive ihrer Wirtspflanzen. Mit diesen Daten werden die klimatischen Bedingungen im aktuellen Verbreitungsgebiet modelliert und anschliessend auf verschiedene Klimaszenarien projiziert. Einen grossen Einfluss auf die Verbreitung eines Insekts haben Temperatur und Niederschläge. «Bei Insekten ist die Wärmesumme einer der wichtigsten Faktoren, der bestimmt, wo eine Art vorkommen kann und wo nicht», sagt Grünig. Ebenso einflussreich seien die minimalen Temperaturen, bei denen eine Insektenart überlebensfähig ist.
Grundlage für die Praxis
Die Verbreitungsszenarien sollen unter anderem als Basis für praktische Anwendungen dienen. Die Forscher arbeiten eng mit den in der landwirtschaftlichen Forschung tätigen Institutionen, Beratungsstellen und Behörden zusammen. Die Szenarien können landwirtschaftliche Versuchsanstalten dabei unterstützen, allfällige Abwehrmassnahmen gegen neu auftretende Schadinsekten zu entwickeln, zum Beispiel indem sich Forschende Informationen über die Bekämpfung in den Ländern beschaffen, wo das Schadinsekt schon «aktenkundig» ist. «Möglicherweise werden wir am Ende eine App bereitstellen, die wie ein Wetterbericht eine Schädlingsprognose macht und den Bauern hilft, sich rechtzeitig gegen anrückende Insekten zu schützen», sagt Pellissier
«Bisher sind wir schlecht vorbereitet auf das, was auf uns zukommen kann», sagt der ETH-Professor. Da landwirtschaftliche Nutzpflanzen und Waldbäume besonders verletzlich sind, müsse sich die Land- und Forstwirtschaft gegen Klimarisiken wie ein höherer Schädlingsdruck wappnen. Denn Landwirtschaft und Nutzpflanzen seien besonders anfällig, betont Pellisier. «Wir haben zwar probate Mittel gegen einheimische Schädlinge wie den Borkenkäfer. Aber wie wir mit einer Kirschessigfliege zurecht kommen können, müssen wir erst noch lernen.»
Sommerserie
Im Rahmen einer Serie präsentiert ETH-News während der Ferienzeit regelmässig Beiträge zu Forschung und Innovation, welche etwas mit der schönsten Zeit des Jahres zu tun haben.
Bisher erschienen:
11.07. Schwitzen für ein kühleres Singapur
18.07. Wissenschaftler für einen Tag
30.07. Kochen, auch wenn es windet
08.08. Den perfekten Schatten programmiert
17.08. Vom Kiefernzapfen zum adaptiven Schattenspender
20.08. Gletscher in Echtzeit beobachten
Mit dem heutigen Artikel wird die Serie abgeschlossen.